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Tesca, 1966 in Kolumbien fotografiert

© Danny Lyon / Courtesy Gavin Brown's Enterprise

Fotos von Danny Lyon bei C/O Berlin: Rausch der Freiheit

Danny Lyon begleitete die Bürgerrechtsbewegung, lebte mit Bikern und fotografierte Strafgefangene. Die Galerie C/O Berlin feiert den Chronisten der amerikanischen Gegenkultur mit einer Retrospektive.

Die Tätowiernadel surrt ziemlich laut, doch die Stimme des Mannes, der sie in der Hand hält, ist noch lauter. Bill Sanders empört sich über den „schändlichen, suizidalen Krieg“ und über die Politiker, die ihn zu verantworten haben. Der blasse junge Mann, dem er gerade einen Dolch mit Totenkopf auf den Oberarm tätowiert, ist ein Marinesoldat. Er muss in ein paar Tagen nach Vietnam, in den Krieg. Um, wie Bill Sanders ihm erklärt, an einem Verbrechen teilzunehmen. Schwer zu sagen, was dem Soldaten später größere Schmerzen bereiten wird: die brennende Wunde auf seiner Haut oder die Schimpftirade des Tätowierers.

Fotografie als Sozialforschung

„Social Sciences“ heißt der Kurzfilm, den Danny Lyon 1968 im „Velvety Tattoo“-Studio von Bill Sanders in Houston/Texas gedreht hat. Die Kamera schweift über die Pin-up- Fotos in dem kleinen Laden und über den nackten Oberkörper eines Mädchens, den der Künstler mit Blumen und einem Peace- Schriftzug verziert. Es sind plumpe bildliche Hervorbringungen, die hier entstehen, naive Kunst irgendwo zwischen Kitsch und Camp. Aber Lyon, der Sanders in dieser Zeit immer wieder bei der Arbeit fotografiert und filmt, macht sich nicht lustig über den Tätowierer. Für ihn ist er ein Meister.

„Social Sciences“ mag als Titel für einen verwackelten 20-Minuten-Film verwegen klingen. Aber Danny Lyon betreibt genau das: Sozialforschung mit der Kamera. „Um ein Thema zu finden, das für mich Bedeutung haben würde, musste ich am Boden der Gesellschaft suchen, nicht an der Spitze“, sagt er. Lyon, den die Galerie C/O Berlin mit einer großen, 175 Fotos und ein halbes Dutzend Filme umfassenden Retrospektive ehrt, ist der große Außenseiter der amerikanischen Fotografie. Weil er seit mehr als fünfzig Jahren stur an seinen Langzeitprojekten arbeitet und keine Aufträge annimmt, war lange kaum bekannt, was für ein großartiges Werk dabei entstanden ist. Seine Filme liefen nicht im Fernsehen und nicht im Kino. Lange verschickte er sie im eigenen Versandhandel direkt an Interessenten.

Zwei Gewichtheber in der Ramsey Unit, einem texanischen Gefängnis (1968).
Zwei Gewichtheber in der Ramsey Unit, einem texanischen Gefängnis (1968).

© Danny Lyon / Courtesy Gavin Brown's Enterprise

Danny Lyon, der 1942 als Kind jüdischer Emigranten aus Deutschland in New York geboren wurde, ist in die Fotografie „hineingestolpert“, wie er sagt. Nach einem Geschichtsstudium schließt er sich dem Student Nonviolent Coordinating Committee als Fotograf an, einem besonders kämpferischen Flügel der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Er wird zum Chronisten des Aufruhrs, hält eine Demonstration vor einem Schwimmbad für Weiße in Illinois fest, Polizeigewalt in Selma/Alabama und die Euphorie beim Marsch nach Washington. Das Buch „The Movement“ mit einer Auswahl der engagierten Bilder macht ihn bekannt.

Mit den Toten sprechen

„Du musst wirklich du selbst sein, wenn du versuchst, dich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen“, lautet Lyons Credo. Fotografie versteht er, wie der von ihm bewunderte Kollege Robert Frank, als „einsame Reise“. Eine Zeit lang ist Lyon dabei auf einem Motorrad unterwegs, als Mitglied des Chicago Outlaw Motorcycle Club. Die Biker tragen Rockabilly-Frisuren, Klamotten aus schwarzem Leder und ein Totenkopf-Emblem auf der Rückseite ihrer Jacken. Doch auf den Fotos sehen sie nicht wie Schläger aus, sondern eher wie Tagträumer. Lyon gelingt es, das Freiheitsversprechen des Unterwegsseins und den Rausch der Geschwindigkeit einzufangen, etwa in einem Bild, auf dem einer der Outlaws mit wehendem Haar den Ohio überquert.

Seine Fotos werden immer privater und persönlicher. Als Lyon 1966 für sein Projekt „Conversations with the Dead“ Zugang zu allen Staatsgefängnissen in Texas erhält, freundet er sich schnell mit Gefangenen an, auch mit einigen zum Tod verurteilten Mördern. „Die Korridore vor den Zellen entlangzugehen, ist für einen Menschen aus der freien Welt so, als ob er über einen Friedhof ginge und mit den Toten sprechen könnte“, erinnert er sich später. Der Fotograf zeigt die Gefangenen bei der Arbeit in Baumwollfeldern, bewacht von berittenen Polizisten, beim Domino-Spielen im Zellenblock oder beim Hofgang, aus der Perspektive der Wärter vom Wachtturm.

Ein Motorradfahrer überquert den Ohio (1966).
Ein Motorradfahrer überquert den Ohio (1966).

© Image Courtesy of The Fine Arts

Die Serie „The Destruction of Lower Manhattan“, eine frühe Studie über Gentrifizierung, entsteht per Zufall. Als Lyon nach New York zieht, wird ringsum ein ganzes Viertel abgerissen. Er fotografiert leer geräumte Gebäude, Baggerzähne, die sich durch Backstein arbeiten, Bauarbeiter, die eine Fassade abtragen. Lyons Kommentar: „Stein um Stein zerlegen sie die Arbeit anderer amerikanischer Arbeiter.“ Es geht um Gewinnmaximierung, die alten Mieter werden sich die neuen Wohnungen nicht leisten können. „Ich fühle mich verantwortlich für das, was ich sehe, was ich fotografiere“, sagt Lyon. Man sieht seinen Bildern diese Distanzlosigkeit an. Sie sind Dokumente der Empathie.

C/O Berlin im Amerika Haus, bis 3. Dezember, täglich 11–20 Uhr.

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