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Cover zu Franco Morettis Studie "Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne".

© Verlag

Franco Moretti: "Der Bourgeois": Die Geburtshelfer des Kapitalismus

Von Robinson Crusoe über Emma Bovary bis zu den Buddenbrooks: Franco Morettis neues Buch "Der Bourgeois" ist eine profunde Studie zur Genese der Bourgeoisie.

Besitz und Bildung, Wohlstand und Moral – das macht diesen eigenartigen Typus der Mitte aus, den zumindest die heutigen Politiker von Rechts und Links so gern umgarnen. Die Rede ist vom Bourgeois, einer angesehenen Gestalt, die im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr an Bedeutung gewinnen sollte. Wer eine so edel klingende Bezeichnung bekommt, muss für die Literatur von Interesse sein. Weshalb der an der Stanford- Universität lehrende Geisteswissenschaftler Franco Moretti mit „Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne“ auch gleich eine Kulturgeschichte des mondänen Bürgertums nachzeichnet.

Mittels Werkinterpretationen von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ (1719) über Henrik Ibsens naturalistische Gesellschaftsporträts bis hin zu Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“ (1901) rekonstruiert der 1950 geborene Moretti die Geschichte eines einzigartigen Aufstiegs. Nachdem sie noch vor der Jahrhundertwende ihre Blüte erlebt, an Einfluss und Finanzstärke gewinnt, geht die Bourgeoisie im Niedergang der Belle Époque einen späten Teufelspakt mit all jenen ein, die Europa 1914 in den Krieg stürzen werden: „Ausgerechnet in dem Moment, in dem die alte Ordnung unterging, erwiesen sich die neuen mächtigen Männer als unfähig, wie eine echte Herrscherklasse zu agieren.“ Stets strebt das Bürgertum im Lauf seiner Historie nach sozialer Macht, die sie allerdings kaum zu nutzen weiß.

Dies mag unter anderem an dem paradoxen, von Moretti pointiert aufbereiteten Selbstverständnis der neuen Mittelschicht liegen: Beherrschung, Tatkraft und Klarsichtigkeit wohnen diesen Rechnern und Kaufmännern genauso inne wie sie auf Einfluss und Kapitalertrag aus sind. Doch über einen heroischen Mythos wie die schwindende Gruppe der Aristokraten und deren traditionsreiche Ritterorden verfügen sie nicht. Sie charakterisiert ferner Maß und Rechtschaffenheit. Insbesondere Jane Austens Figuren zwischen Liebeseifer und gesellschaftlicher Etikette verkörpern letztlich doch den Habitus ernsthafter Seriosität, suchen die „Geschichtenhaftigkeit“ des Lebens zu kontrollieren, sich nicht dem Ausschweifenden auszuliefern. Ihr Terrain ist der Alltag, so wie bei den Buddenbrooks von Thomas Mann.

Der Bourgeois: beharrlich, aber mutlos

Auch im Stil bleibt sich die Prosa um den bourgeoisen Nukleus treu: Nüchternheit, Regelmäßigkeit und gezielte Langeweile zieren das Interieur der bürgerlichen Mitte. Wer hingegen wie Madame Bovary in Gustave Flauberts gleichnamigem Werk von 1856 zum Beispiel mit Liebschaften vom Wege abweicht, muss angesichts eines gnadenlosen Realismus bekanntlich mit bitteren Konsequenzen rechnen. Dem Bourgeois mangelt es an Mut oder Visionen, dafür zeichnet ihn Beharrlichkeit aus, wie es Defoes früher Genreroman „Robinson Crusoe“ belegt: Trotz widriger Umstände lässt sich Crusoe nicht unterkriegen und müht sich beständig für ein gutes Leben in der Ferne ab. Da er jedoch weitaus mehr als nötig arbeitet, lässt sich der „kapitalistische Abenteurer“ als früher Repräsentant einer nach endlosem Wachstum strebenden Wirtschaftsform verstehen. Aus Arbeit generiert sich Kapital und zugleich ein bürgerliches Selbstbewusstsein.

Doch ist die immer enger werdende Verbrüderung mit dem Kapital wirklich erfolgversprechend für die aufstrebende Mittelklasse? Bedingt. Denn so wie sie dem freien Markt zum Gedeihen verhalf, wird sie selbst – der Untergang des Hauses Buddenbrook ist uns vor Augen – zu dessen Opfer und flüchtet sich zunehmend ins Epigonentum. Mit dem Verfall bürgerlicher Werte kehrt der Bourgeois der Gegenwart den Rücken. Statt der Zeitenwende zu frönen, begibt er sich zurück in ein „christlich-feudales“ Weltbild, aktualisiert die viktorianische Architektur und übt sich in Gentleman-Attitüden. Und auch der Stil in den Texten ändert sich: Vom diskreten Ton gehen einige Autoren, verbunden mit Werken wie Charles Baudelaires „Die Blumen des Bösen“ oder wiederum Flauberts „Madame Bovary“, im Zuge der Legitimationskrise des Bürgertums zu einer wertenden, stark adjektivischen Sprache über. Die Entzauberung der Moderne soll sich eben nicht ganz ohne Widerstand ereignen, obgleich sie kaum aufzuhalten ist.

Franco Moretti liefert ein konzentriertes Soziogramm

Dass das konzentrierte Soziogramm des Moderne-Experten Franco Moretti, das seinen Nährwert umfänglich aus der Literatur zieht, mit einer intelligenten Ausarbeitung des Kapitalismus in Ibsens Werken endet, ist bezeichnend. In „Die Stützen der Gesellschaft“ (1877) stehen sich ein um Sicherheit bemühter Baumeister und ein profitversessener Prokurist einer Werft gegenüber. Der Bourgeois schlägt sich auf die Seite des Werftprokuristen und findet sich am Ende eben doch im zeitweise noch kritisch beäugten Kapitalisten wieder. Das altgediente Bürgertum mit seinem hehren Sittenkodex hat sich somit selbst abgeschafft – eine bemerkenswerte Einsicht dieser profunden, erkenntnisreichen Studie, die angesichts eines bedrohten Mittelstandes in der Gegenwart zeitgemäßer nicht sein könnte.

Franco Moretti:Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp, Berlin 2014. 275 Seiten, 24,95 €.

Björn Hayer

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