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Szene aus Jacques Offenbachs „La Vie Parisienne“

© Foto: Marie Pétry

Französische Klassik: Paris liegt in Italien

Warum die französische Musik des 19. Jahrhunderts ausgerechnet mitten in Venedig erforscht wird, in einem prachtvollen Palazzo

Glück muss man haben: 2006 entschied sich Nicole Bru, eine märchenhaft reiche Pharmakonzern-Erbin, neben ihrem umfangreichen sozialen Engagement auch die Erforschung der französischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts aus ihrer Privatstiftung zu unterstützen. Und zwar mit jährlich drei Millionen Euro. Weil sie zudem gerade einen venezianischen Palazzo vor dem Verfall gerettet hatte, aber noch eine sinnvolle Nutzung für die historische Immobilie suchte, wurde die neue Institution nicht etwa in Paris angesiedelt, sondern im Herzen der Lagunenstadt.

Im Viertel San Polo, direkt am Rio-Marin-Kanal, wird nun also geforscht, in einem 1697 errichteten herrschaftlichen Haus, das einst im Garten der Adelsfamilie Zane stand. Die Eingangshalle beeindruckt mit vierfarbigem Marmordekor, die repräsentativen Räume sind mit fein ausgeführten Fresken und ausladendem Stuck geschmückt. Und im zentralen Saal können Konzerte stattfinden - mit jenen Werken, die das Wissenschaftlerteam aus den Tiefen französischer Bibliotheksarchive geborgen hat.

„Das lange 19. Jahrhundert“ ist die Periode, die hier erforscht wird, jene geistesgeschichtliche Epoche also, die mit dem Sturm auf die Bastille 1789 beginnt und mit dem Ersten Weltkrieg endet. Erklärtes Ziel des „Centre de musique romantique française“ ist dabei, die Partituren nicht nur zu katalogisieren und zu analysieren, sondern sie der Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Ein Großteil der Finanzmittel wird darum für Aufführungen und deren Mitschnitte investiert. Außerdem betreibt der Palazzetto Bru Zane seinen eigenen Online-Radiosender, der ausschließlich französische Musik spielt. Damit die Musikwelt auch erfährt, dass die Grande Nation mehr zu bieten hat als eine Handvoll Hits wie Bizets „Carmen“, Ravels „Bolero“ und die „Sinfonie fantastique“ von Hector Berlioz.  

Die hauseigenen Publikationen erscheinen zumeist in einer eleganten Hybridform, die Buch und CD miteinander kombiniert: Auf Englisch und Französisch werden Hintergrundinfos, Analysen und Dokumente wie Theaterplakate präsentiert, die den Kontext des jeweiligen Werkes erklären. Mittlerweile hat sich eine eingeschworene Gemeinschaft von entdeckungsfreudigen Interpret:innen gebildet, die sich in immer entlegenere Regionen des Repertoires vorwagt.

Offenbachs „Voyage dans la Lune“ vs. Linckes „Frau Luna“

Gerade im Bereich der Opéra Comique, jener typischen französischen Spielart des populären Musiktheaters mit gesprochenen Dialogen und eingängigen Melodien, gibt es zahllose Schätze zu heben. Und dann ist da natürlich noch die Operette, zur höchsten Blüte geführt vom auch hierzulande geschätzten Jacques Offenbach. Gerade hat der Palazzetto Bru Zane dessen „Voyage dans la Lune“ herausgebracht, eine Reise auf den Mond, bei der es deutlich eleganter und erotischer zugeht als in Paul Linckes Raumfahrer-Posse „Frau Luna“.

Blick in den Innenhof des Palazzetto am Rio Marin.

© Foto: Palazzetto Bru Zane

Neben und nach Offenbach tummelten sich aber noch viele Dutzend weiterer Komponisten auf dem lukrativen Feld des musikalischen Unterhaltungstheaters. Charles Lecocq beispielsweise, der mit „La fille de Madame Agnot“ 1872 einen Riesenerfolg hatte. In einer rein muttersprachlichen Besetzung ist die haarsträubend konstruierte Geschichte, die kurz vor Napoleons Machtergreifung im Pariser Marktviertel Les Halles spielt, jetzt wieder auf CD zu hören, natürlich in einer wissenschaftlich minutiös rekonstruierten Originalfassung der Partitur.

In dieser Saison setzt das Veranstaltungsprogramm des Palazzetto zwei Schwerpunkte: zum einen geht es um komponierende Frauen in Frankreich, zum anderen wenden sich die Forscher dem 1842 geborenen Jules Massenet zu, der als Opernkomponist zum Star der Belle Époque wurde, nach seinem Tod aber von der nachfolgenden Generation wegen der vermeintlichen Seichtheit seiner Musik geschmäht wurde.

Jules Massenet erfährt jetzt wieder Wertschätzung

Heute werden seine geschmeidigen, erotisch aufgeladenen Melodien wieder mehr und mehr geschätzt. Einen Höreindruck vermittelt das vom Palazzetto Bru Zane frisch veröffentliche Album mit Orchesterliedern Massenets aus allen seinen Schaffensphasen, das Hervé Niquet mit dem Orchestre de Chambre de Paris und sechs exquisiten Solist:innen aufgenommen hat. 21 der 25 Tracks sind Ersteinspielungen, vieles wurde aus unveröffentlichten Handschriften rekonstruiert.

Ab 1840 war es Frauen am Pariser Conservatoire gestattet, nicht nur Gesang oder Instrumentalmusik zu studieren, sondern auch die Theoriekurse zu besuchen, um dort Kontrapunkt, Fuge und Harmonielehre zu erlernen, also das Tonsetzerhandwerk. Vorher waren begabte Komponistinnen auf Privatunterricht angewiesen, so wie Louise Bertin, der es bereits 1831 gelungen war, ihren „Fausto“ an der Pariser Oper herauszubringen. Diese Goethe-Vertonung wird dank des Palazzetto Bru Zane jetzt ebenso zu hören sein wie die Opéra Comique „Le Sérénade“ von Sophie Gail oder Tondichtungen von Augusta Holmès. Die Live-Aufführungen finden vor allem in Venedig und Paris statt, aber auch in Avignon, Toulouse und Metz.

Berlinerinnen und Berliner, die sich für die musique romantique francaise interessieren, können sich in der Saison 2022/23 auf fünf Ausgrabungen freuen, die auf den Hauptstadtbühnen herauskommen, sogar ganz ohne Hilfe des Palazzetto Bru Zane: An der Komischen Oper widmen sich die Dirigentin Marie Jacquot und die Regisseurin Nadja Loschky der „Hamlet“-Vertonung von Ambroise Thomas. Ebendort wird Max Hopp zwei Einakter von Offenbach inszenieren, nämlich „Fortunios Lied“ sowie „Oyayaye“.

Die Deutschen Oper bietet Ende September in der Philharmonie eine konzertante „Lakmé“ von Leo Delibes an und wird im Juni 2023 dann Massenets Vertonung des Salome-Stoffes präsentieren, seine 1881 uraufgeführte „Hérodiade“, in prachtvoller Besetzung mit Clementine Margaine, Nicole Car, Matthew Polenzani und Etienne Dupuis, dirigiert vom stilistisch versierten Enrique Mazzola.

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