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Kultur: Frau J. im Schnee

Ein

von Rita Pokorny

Endlich einmal sein, wo von allen Seiten Winter ist, Schnee, Kaminfeuer, Luft, Schlagobers, Marillenschnaps, Schnee. Mit dem Zug durchs Grau der brandenburgischen Steppe in Richtung Südwesten, nach zwei Stunden werfen sich die Flächen allmählich zu Hügeln auf, die Dächer der Häuser werden spitzwinklig, Kirchtürme rund, über dem Land das zarte Raster der Rebstöcke und Hopfenstangen.

Der regionale Zug nach Innsbruck ist kalt und überfüllt wie ein Flüchtlingstransport, unter den Menschen Skier in Plastikfutteralen, senkrechte Ausgaben jenes Koffers, der seit einiger Zeit auf den Dächern der Autos herumgefahren und vom Hersteller Dachsarg genannt wird. Mit Vorsicht steigt der Zug tausend Meter in die Höhe, Murnau, Oberau, Mittenwald, Scharnitz, Seefeld in Tirol. Vor dem Bahnhof schneller sein als andere, Taxi, Taschen rein, zum Hotel, Hotel Alpenblick bitte. Das Nachbarhaus gleicht bis unter die Dachschräge dem Hotel, vierstöckig, weiß, Balkone aus dunkelbraun gebeizten Latten, an der Fassade ein frisches Lüftlbild: der heilige Georg tötet einen kleinen Wurm, und der Betrachter fragt sich, warum der Heilige bis an die Zähne bewaffnet auf so wenig Böses losgeht.

Seefeld ohne See. Der ist zugeschneit, das Eis darunter muss man sich denken. Zu beiden Seiten der Straßen liegt der Schnee, haushoch bis zu den Regenrinnen, von denen die Eiszapfen herunterwachsen. Im Ort ist jeder Zoll vermessen, mit kleinen Fallen für Vorübergeher, Brezelstände, Schnaps- und Glühweinecken. Hoch oben in den Wald geschlagen sind großzügige Schneisen, die nachts wie ein Boulevard im Lichte stehen, für Abfahrer, die auch im Finstern zu Tal stürzen wollen, gerade so viel Wald ist geblieben, dass die Kulisse stimmt. Der ganze Ort hängt an den stählernen Schnüren der Seilbahnen und Lifts.

Neben der Kirche steht ein gut beleuchteter Schaukasten mit amtskirchlichen Nachrichten: die Anfangszeiten der Gottesdienste, heilige Wallfahrten, Hauskonzerte, Öffnungszeiten der Bücherei, dazwischen das Porträt einer Frau. Die Reisende betrachtet ihr Bild, lässt sich Zeit. Das Haar, der Mund, die Frau ist berühmt, erst kürzlich hat sie den Nobelpreis für Literatur gekriegt, alle müssen sie kennen. Trotzdem steht über dem Bild: Wer ist diese Frau? Das Porträt ist nicht Fotografie nicht Zeichnung, man hat es aus dem Netz gezogen, und obwohl die Frau ihren Blick auf den Betrachter richtet, kann man ihre Augen nicht sehen. Sie sind von einem breiten, weißen Rechteck, einem hinein- konstruierten Balken verdeckt, einer Art Pflaster, das man sich auch über dem Mund vorstellen kann. Eine diffuse Gefahr umwabert das Bild, das in einem wunderlichen Gegensatz zur Schlichtheit der restlichen Mitteilungen steht. Die Leere, die es umgibt, die Härte der schwarz-weißen Repräsentation haben etwas von der beunruhigenden Wirkung grauer Fotomalerei. So werden Menschen ausgestellt, die mit einem unaussprechlichen Unheil in Zusammenhang stehen, auf der Flucht sind oder gesucht werden, zweifelsohne: ein Fall für die örtliche Gendarmerie. Luft! denkt die Reisende, ich bin gekommen wegen der Luft.

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