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Kultur: Freiheit: ein Spiel

Ein Innenhof mit frisch geweißten Wänden, Schneeflocken segeln durch das grelle Licht der Außenleuchten.Auf vier Stockwerken reihen sich in immer gleichen Abständen Fenster an Fenster.

Ein Innenhof mit frisch geweißten Wänden, Schneeflocken segeln durch das grelle Licht der Außenleuchten.Auf vier Stockwerken reihen sich in immer gleichen Abständen Fenster an Fenster.Daß sie vergittert sind, sieht man nicht gleich, denn düster wirkt sie nicht, die erst im März neu bezogene Justizvollzugsanstalt für Frauen in der Lichtenberger Alfredstraße.Hinter den Fenstern liegen Zellen.Sie erstrecken sich alle zum Innenhof, kein Fenster blickt zur Straße: Alles, was von der Außenwelt übrig bleibt, ist ein Stück Winterhimmel.Über den Hof weht Musik, Michael Jackson "The Way You Make Me Feel".Sie dringt aus dem Kultursaal im ersten Stock.

Dort üben Anna, Sigrid, Tony und Natascha, vier von etwa achtzig Insassinnen der JVA, eine Choreographie ein.Jeden Montag und Freitag finden sie sich am späten Nachmittag im Kultursaal ein, um zu proben, Theater zu spielen."My Lonely Days Are Gone" singt Jackson, und die Gesichter glühen.Freudig wird das Team "von draußen" um die Schauspielerin und Regisseurin Gudrun Herrbold und die Dramaturgin Saskia Draxler begrüßt, wie eine Gruppe alter Freunde.Im Knast mit seinen beschränkten Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme kommt man sich schnell näher.Vier Stunden Sprechzeit stehen den Gefangenen zu, im Monat."Letzte Woche haben wir einem Bediensteten ein Handy geklaut", erzählt Tony (32)."Wir haben mit Freunden telefoniert bis der Akku leer war." Zur Strafe gab es einen Tag Einschluß.

5 000 Inhaftierte sitzen derzeit in Berlin hinter Gittern, nur 200 von ihnen sind Frauen.Betrug, Diebstahl und Unterschlagung sind die Hauptdelikte, oft dienen sie als "Beschaffungskriminalität" zur Finanzierung der Drogenabhängigkeit."Frauenkriminalität hat eine eigene Struktur", erklärt Gudrun Herrbold, die zuvor in der JVA Tegel, dem Männerknast, Theater gespielt hat."Frauen neigen im Strafvollzug mehr zur Autoaggression, Männer richten ihre Aggressionen eher auf ein Gegenüber." So hat sich das Theaterprojekt unter dem Titel "La Grande Vie" der Suche nach einer spezifisch weiblichen Aggressivität angenommen, einer Suche nach Frauenbildern im gesellschaftlichen Mikrokosmos Knast.Dabei müssen sich auch die "von draußen" Fragen gefallen lassen, sich "auf Augenhöhe" zu erkennen geben.So nehmen Theaterteam und Anstaltsinsassinnen gemeinsam am aufwärmenden Sensitivierungs- und Körpertraining teil.Für Minuten verschwimmt die Grenze zwischen "drinnen" und "draußen".Das schafft Vertrauen."Therapeuten haben die Frauen während ihrer Justiz-Karriere genug kennengelernt", sagt Gudrun Herrbold.Therapeuten, von deren Urteil der weitere "Vollzugsplan" abhängt.Von diesen Therapeuten haben die Frauen die Nase voll.

"Findest du das nicht zu aufreizend, Gudrun?", fragt Tony, die sich gerade eine enge Weste angezogen hat.Natascha (35) hat in ihrem Kleid einen hohen Schlitz, sie trägt ihre Springerstiefel wie immer ohne sie zu zuzubinden und besteht auf einer Lederjacke über dem Kleid: "Ich sehe doch schon so brav aus." Sigrid (42) hat einen Schleier über ihren eleganten Hut geworfen.Den Jogging-Lock des Knast-Alltags haben sie alle abgelegt.Der Kultursaal mit seinem Charme irgendwo zwischen Schulaula und zu klein geratener Turnhalle verwandelt sich in einen Ballroom: Ein Tanzwettbewerb soll stattfinden, er verspricht dem Sieger die Erfüllung seines Lebenstraums.Nur die ersehnten Partner bleiben aus, das Warten beginnt.Diese Situation bildet das Grundgerüst für die szenische Recherche "La Grande Vie", gemeinsam aus Improvisationen entwickelt.Die Bürde einer literarischen Stückvorlage wollte man sich nicht aufladen.Mitunter werden auch Regieideen von den Darstellerinnen kritisch aufgenommen: "Das spiel ich nicht", ruft Natascha, "das nicht einfach nicht realitisch".

"Wenn ihr in der Rolle seid, habt ihr eine viel größere Körperspannung", bescheinigt Gudrun Herrbold den Frauen, die sich konzentriert durch den Raum bewegen.In der Rolle sein: Der artifiziellen Welt der Haftanstalt eine andere Persönlichkeit entgegensetzen, Distanz vom Eingesperrtsein gewinnen, um sich selbst wiederzufinden: Da ist Anna (26), die junge Russin, die seit drei Jahren in Deutschland lebt.Zwei davon hat sie hinter Gittern verbracht."Wegen einer richtigen russischen Räubergeschichte", erzählt sie."Ich habe das längst vergessen, das kommt nicht wieder vor." Ihre Figur im Stück hat sie "Anastasia II" getauft, ihr Motto: "Ich liebe Rußland." Ein Sehnsuchtsmotiv: Chaotisch sei das Leben dort, berichtet Anna, doch ihre Tochter lebe in Weißrussland, bei ihren Eltern.Anna singt "Schwarze Augen" in ihrer Heimatsprache, ruhig, beseelt, um sich kurz darauf beim Tanzen völlig zu verausgaben."Das ist gut so", sagt sie tief Luft holtend.Ihr Augen glänzen.Sigrid ist "Angel".Sie hütet eine Haarsträhne ihrer Tochter als teursten Besitz."Wenn ich wieder draußen bin, werden wir die Strähne zusammen verbrennen.Und lachen", fügt sie noch hinzu.Von den eigenen Geschichten der Frauen sind die Figuren in "La Grande Vie" nicht zu trennen.Im Ballroom wollen sie sich alle von ihrer besten Seite zeigen, Aufmerksamkeit erregen, geliebt werden."Ich will tanzen mit jemandem, der mit mir klarkommt.Harmonie ist wichtig", sagt Tony.

Zwischen Anna, Sigrid, Tony und Natascha wird bei den Vorstellungen ein Fernseher stehen, der per Videobild Deniz wieder in die JVA zurückbringt.Denn Deniz ist raus.Zu ihrem Abschied hatte sie eine Torte gebacken."Tschüß" stand darauf geschrieben: Eine lakonische Abschiedsformel, hinter der auch die Angst steckt, bald schon wieder eine Zelle beziehen zu müssen.So wie Natascha.Neun Jahre sitzt sie bislang."Ich habe eine lange Handtaschen-Karriere", nennt sie das.Immer wieder hat sie durch Diebstahl und das Einlösen von Schecks, die ihr nicht gehörten, ihre Sucht finanziert.Immer wieder ist sie dafür in den Knast gegangen.Im Januar könnte sie freikommen, wenn sie einen Platz in einer Selbsthilfegruppe findet."Die wollen mich nicht mehr.Das letzte Mal bin ich da schwanger raus gegangen und konnte gleich vier Väter anbieten." Nataschas Freund sitzt noch bis 2003 in der JVA Tegel."Wir wollen heiraten", sagt sie mit ernstem Gesicht.Ob sie ihn wohl sehen kann, bei dem geplanten Gastspiel im Männerknast? Noch eine Woche bis zur Premiere."Am Ende des Stückes will ich noch zehn Zeilen sagen", kündigt Tony an.Vor Aufregung findet sie ihren Zettel nicht, aber etwa so hat sie es sich ausgedacht: "Man fesselt uns die Hände, schließt die Türen, um vor uns sicher zu sein.Eine Zeitlang lassen wir sie unsere Körper kennen, aber nicht unsere Gedanken." Sigrid ist begeistert."Dann fassen wir uns alle an den Händen, dann kann keiner an uns heran kommen", schlägt sie vor."Man sollte das auch nicht zu poetisch machen", unterbricht Natascha die bewegte Stimmung."Schließlich sehe ich doch sowieso schon so brav aus." Alle lachen.

Nachdem die schwere automatische Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen ist, ziehen die Theaterleute in ihre Stammkneipe um die Ecke.Natürlich gibt es noch Organisatorisches zu besprechen, doch vor allem fungiert die Wirtsstube der "Postmeile" als eine Art Zwischenwelt, ermöglicht ein kurzes Innehalten, bevor man nach den Erlebnissen im Gefängnis wieder in das Leben draußen eintaucht."Die Arbeit wirkt lange nach, und sie relativiert auch das eigene Schicksal", sagt Saskia Draxler.Zur gleichen Zeit als das Team seine Zeche zahlt, werden Anna, Sigrid, Tony und Natascha in ihren Zellen eingeschlossen.Nachtruhe bis zur "Lebenkontrolle" um 6.30 Uhr.

Die Aufführungen in der JVA Lichtenberg sind nicht öffentlich.Für den 9.Februar ist aber ein Gastspiel von "La Grande Vie" in der Volksbühne geplant.Eine Filmreihe zum Thema "Weibliche Aggressivität" (u.a mit Knastfilmen) ist im Januar im Kino Babylon Mitte zu sehen

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