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Kultur: Fremdsehen

Gute Fotografie schafft die Illusion, wir könnten unsere echte Welt mit eigenem Blick durch fremde Augen sehen. Wir könnten einfach die Zeit stillstehen lassen, den Atem anhalten und die Welt begreifen, wenn wir sie nur beobachten.

Gute Fotografie schafft die Illusion, wir könnten unsere echte Welt mit eigenem Blick durch fremde Augen sehen. Wir könnten einfach die Zeit stillstehen lassen, den Atem anhalten und die Welt begreifen, wenn wir sie nur beobachten. Gestern war in der Galerie J. J. Heckenhauer für einen Moment beim Videoloop „Marsch“ der Ton ausgefallen. Und so lief diese großartige Moskauer Studie von Olga Chernycheva (geb. 1962) ganz ohne Musik. Es hätte mit Posaunentönen nicht besser sein können.

Die Ausstellung „Zeitgenössische russische Fotografie und Videokunst“ bietet einen ausgezeichneten Einblick in eine immer noch zu wenig bekannte Kunstszene. Dabei hat Russland einfach den richtigen Boden für Augenmenschen. Hier gedeihen Künstlerfotografen, die punktgenau auf den charakteristischen Ausdruck ihrer Motive warten können. Auf Gesichter, auf Handhaltungen, auf Falten, Formen, Farben – aber nie auf Posen. Sie eint ein unsichtbarer optimistischer Tiefgang, der das Gegengewicht zur rauen Oberfläche bildet.

Man bekommt Sehnsucht nach dem Russland auf diesen Bildern. Die Fotos von Anastasie Khroshilova zeigen jenes scheinbar endlose Land der schneebedeckten Wiesen und kugeligen Kirchtürme. Wo jene Menschen leben, deren Gesichter schon Tschechow beschrieben hat. Auch die beiden westlichen Fotokünstler in der Ausstellung, Philippe Herbet aus Brüssel und Jens Liebchen aus Berlin, ließen sich bei ihren Besuchen und Recherchen vom Osten inspirieren und ergänzen nun die Ausstellung der russischen Fotografen auf Augenhöhe! (Brunnenstraße 153, bis 3. März, 1500 bis 7000 Euro.)

Bei der Suche nach einer eigenen visuellen Fotosprache lässt sich kaum vermeiden, dass man sich zuweilen beim Nachplappern erwischt. Jeder braucht Vorbilder. Irgendwann aber ist diese Phase überstanden und vorbei. Die Frage ist nur, ob sie die jungen litauischen Fotografen Joanna Deltuvaite (geb. 1981), Paulius Petraitis (geb. 1985) und Roka Pralgauskas (geb. 1984)schon hinter sich haben. Die drei Künstler der Ausstellung „private“ (Vol. 1) in der Galerie Giedre Bartelt (Linienstraße 161, bis 10. März) sind zwar noch am Anfang ihrer Karrieren, haben sich zu Hause aber bereits einen Namen gemacht: Sie vertraten ihr Land bei baltischen Ausstellungen im Ausland und auf Festivals. Und trotzdem sehen Serien wie die „Wartenden Mädchen“ von Pralgauskas so verdammt nach marktgängig gemachtem West-Trash & Pop aus, dem Biedermeier des 21. Jahrhunderts. Schicke Momentaufnahmen, als wären sie für die Homepage „How to party in Vilnius“ entstanden (Preise zwischen 400 und 4000 Euro). Vor zehn Jahren sind selige Scharen von Lomografen durch die Metropolen Europas gezogen, im Gepäck ähnlich wackelige, verschwommene und zufallsverliebte Anschnitt-Techniken. Immer waren sie auf der Jagd nach dem buchstäblich schrägen Motiv. Auf die wirklich eigene Stärke der neuen litauischen Fotografie aus dem größten der drei baltischen EU-Länder werden wir also einfach noch warten. Aber mit Zuneigung und Geduld.

Thea Herold

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