zum Hauptinhalt
Fritz Stern, Historiker aus New York, bei seiner Ansprache in Berlin.

© AFP

Fritz Stern: Moralisten – eine ehrenwerte Gattung

Zum Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944: Was wir von den Widerständlern lernen können. Fritz Sterns Gedenkrede im Bendlerblock dokumentiert Tagesspiegel.de hier.

Nur eins würde dem Sinn dieser Stunde entsprechen: Schweigen in Ehrfurcht. Aber das würde den Menschen, an die wir heute denken, nicht gerecht. Die Menschen des 20. Juli sind ein Teil deutscher und europäischer Geschichte und in der deutschen Geschichte einmalig: Nie zuvor gab es in Deutschland einen solchen Aufstand für Befreiung, für Recht und menschliche Würde, von Menschen aus verschiedenen Schichten getragen – Adel und Gewerkschaftler, Militär und Beamte, Christen und Freidenker, aus allen Teilen des Landes. Gemeinsam im Kampf gegen ein Übel, den eigenen Unrechtsstaat, der das Land moralisch und schließlich existenziell in eine Katastrophe trieb, und doch auch mit sehr verschiedenen Zukunftsvorstellungen.

Ich habe die Erschütterung des plötzlichen Wiederauftauchens von vergangenem Schrecken hier im Bendlerblock am 20. Juli 1954 selbst erlebt – bei der ersten offiziellen Gedenkstunde für die Menschen des Aufstands. Hauptredner war ein Freund meiner Eltern, Hermann Lüdemann, der als Sozialdemokrat 1933 verschleppt und gepeinigt wurde. Bundeskanzler Adenauer war anwesend – aber es waren die Witwen in Schmerz und Trauer, die vaterlosen Kinder, ihre Tränen, die ich sah oder ahnte – das hat mich zutiefst betroffen gemacht. Eine innere Scham überkam mich, die Scham über meine hasserfüllte Abscheu vor allem Deutschen, die in mir seit meiner Kindheit nistete.

Damals, 1954, ergriff mich die Trauer der Hinterbliebenen, heute möchte ich mich an die Familienmitglieder wenden. Meine Damen und Herren: Sie tragen ein schweres, aber auch großes Erbe, Sie wissen besser als die allermeisten von uns, was Ihre Eltern und Großeltern erlebt und erlitten haben, und Sie wissen um den schweren Weg, dem die Überlebenden ausgesetzt waren. Sie wissen: Der Aufstand war nicht umsonst. Die Erinnerung an ihn hat einige Vordenker der Bundesrepublik bewegt. Das Grundgesetz ist entferntes Echo: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Erinnerung hat das Selbstbewusstsein der neu entstandenen Bundeswehr bestimmt: Der Gedanke des Staatsbürgers in Uniform ist Leitfigur der Bundeswehr; die Mahnung, dass selbst der Soldat seinem Gewissen folgen muss – hin bis zum Ungehorsam – ist Erbe des Widerstands.

Die Menschen des späteren Widerstands lebten im Schatten dramatisch-traumatischer Geschichte. Ganz knapp nur einige Andeutungen: Von 1914 bis 1933 taumelte Deutschland von einem tief aufwühlenden Umsturz zum anderen: Rausch und Siege von 1914 endeten mit einer anscheinend plötzlichen Niederlage, mit einer neuen, für viele fremden Staatsform, befrachtet von alten Schulden, die sich in einer Welt von Feinden behaupten musste, Inflation und Wirtschaftskrise – und Kampf im Inneren. Das Land war gespalten. Viele klammerten sich an den Gedanken des inneren Verrats, wie so oft in der Geschichte und überall: eine schuldbeladene, verzerrte Vergangenheit vergiftete die Gegenwart und lähmte die Kraft zur Gesundung.

Die Weimarer Republik hatte weder Glanz noch Glück – und wurde von den deutschen Eliten verachtet. Nur in einem solchen Land konnte es zum Aufstieg eines Hitlers kommen – wobei dieser Aufstieg des angeblichen Erlösers weder unvermeidlich noch zufällig war. Was hat der Nationalsozialismus alles versprochen und anscheinend verkörpert: straffe Führung, innere Säuberung, Ende der Wirtschaftskrise, Befreiung von Versailles und Wiederherstellung deutscher Großmacht, Kampf eines geeinten Volkstums gegen Bolschewismus und jüdische Zersetzungsmacht, verbrämt mit pseudo-religiöser Heiligkeit.

Angesichts solcher Versprechen und der unüberbietbaren Inszenierung neuer Macht, kann man verstehen, dass einige der Hauptfiguren des späteren Widerstandes, wie General Beck und Fritz von der Schulenburg, die Bewegung als Rettung betrachteten und ihr begeistert Vorschuss-Vertrauen schenkten. Dass bereits im Februar 1933 Tausende von Menschen der Grausamkeit der SA ausgeliefert wurden, dass Menschen in Konzentrationslagern gepeinigt wurden, der Rechtsstaat der Willkür geopfert wurde, wollte man nicht sehen. Die Geschwindigkeit der Unterwerfung verblüffte die Nazis selbst. Auch die Verfolgung der Juden fand Zustimmung. Für die Andersdenkenden war der Weg von Unbehagen zur Opposition und schließlich zum Widerstand ein langwieriger Alleingang, mit Zweifeln belegt.

Die Nachwelt hat sich mit den Zukunftsplänen des Widerstands viel beschäftigt. Ich kann hier nur zwei Aspekte erwähnen: Nach Stalingrad hofften die Verschwörer auf ein baldiges Ende des Schreckens, eine militärische Niederlage hinnehmend, hofften auf ein Deutschland in einem neu organisierten, friedfertigen Europa. Die meisten waren keine Demokraten, Demokratie war ein Fremdwort, es gab keine demokratische Staatslehre, nur die falsch verstandene Erfahrung, Weimar habe zu Hitler geführt.

Ich glaube, die Männer und Frauen des 20. Juli waren in ihrem Tiefsten unpolitische Menschen, die in moralischen Kategorien dachten und urteilten. In Frankreich bezeichnete man solche Menschen als moralistes – eine ehrenwerte Gattung. Ich glaube, Moltke sprach für viele, als er 1942 schrieb: „Das Tier im Menschen ist frei geworden und herrscht.“

Zum Schluss ein Wagnis der Deutung: Bei dem Abstand von beinah siebzig Jahren darf man vielleicht fragen, ob es nicht wichtige Gemeinsamkeiten im deutschen Widerstand und in der europäischen Résistance gegeben hat. Ich möchte nur an einen der großen Menschen der französischen Résistance, an Albert Camus, erinnern, der genau im Juli 1944 im Pariser Untergrund in einem Brief an einen fiktiven deutschen Freund das Elend der deutschen Verrohung beklagte: „Sie haben angenommen, dass es angesichts des Fehlens aller menschlichen oder göttlichen Moral einzig die Werte gebe, die im Tierreich herrschen, nämlich Gewalt und List. Daraus haben Sie geschlossen, dass der Mensch nichts sei und man seine Seele töten könne.“ Waren das nicht Moltkes Gedanken in fremder Sprache?

Ich glaube, es gab diese Gemeinsamkeiten im europäischen Widerstand. Könnte man nicht dieser Gemeinsamkeit gedenken und eine europäische Erinnerungsstätte errichten? Eine solche gemeinsame Gedenkstätte, vielleicht in der Nähe des europäischen Gerichtshofes, würde Dank und Verpflichtung ausdrücken und sollte die späteren Freiheitskämpfer Osteuropas einbeziehen. Ein Denkmal der Versöhnung: die Toten zu ehren, den Künftigen zur Mahnung.

- Diese Rede, die wir hier in Auszügen dokumentieren, hat Fritz Stern gestern bei der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum Jahrestag des 20. Juli 1944 im Berliner Bendlerblock gehalten. – Stern, 1926 in Breslau geboren, emigrierte 1938 mit seiner jüdischen Familie in die USA. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung 1997 an der New Yorker Columbia Universität Geschichte.

Fritz Stern

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false