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Kultur: Fruchtfliegen: Moritz Rinke über Performance-Kunst, Parapsychologie und die Drosophila

Letztes Jahr war sie schon einmal da. Keiner wusste, wo sie herkam, keiner wusste, wie lange sie bleiben wollte, und jetzt, wo sie wiedergekommen ist, behaupten einige, sie sei wahrscheinlich nie weg gewesen.

Letztes Jahr war sie schon einmal da. Keiner wusste, wo sie herkam, keiner wusste, wie lange sie bleiben wollte, und jetzt, wo sie wiedergekommen ist, behaupten einige, sie sei wahrscheinlich nie weg gewesen. Die Rede ist von der Fruchtfliege. Von der Berliner Fruchtfliege. Überall, wo man hinkommt, sagen die Leute: "Sag mal, hast du auch diese komischen Biester?" Im Wein. Im Salatdressing. In den Erdbeeren. Tag und Nacht über der Biotonne. Vorgestern bin ich mit so einem Touri-Dampfer vom Schloss Charlottenburg die Spree hochgefahren, weil ich mal was anderes sehen wollte, aber ab der Lessingbrücke bis Treptow sind mir die Fruchtfliegen hinterhergeflogen. Wir haben 500.000 Raver auf der Love-Parade gehabt, aber ich hatte bestimmt 10 Millionen Fruchtfliegen auf der Dampferfahrt. (Wer glaubt, ich drehe hier gerade Locken auf der Glatze oder mache Dada wegen dem journalistischen Sommerloch, der irrt!)

Vor ein paar Tagen war ich zu einem Abendessen eingeladen. Die Gäste diskutierten gerade heftig über den Performance-Künstler Wolfgang Flatz, der über dem Prenzlauer-Berg eine Kuh aus einem Helikopter abwerfen wollte, um wohl künstlerisch auf die BSE-Problematik hinzuweisen, aber ich konnte mich nicht an der Flatz-Diskussion beteiligen, weil ich die ganze Zeit auf mein Carpaccio starrte, über dem eine Fruchtfliege kreiste. Irgendwann schlug ich zu. Mitten ins Carpaccio! Wenn einige gut finden, dass Flatz Kühe aus der Luft wirft, dann werde ich ja wohl mal eine Fruchtliege ... "Diese wendigen Biester!", rief ich noch entschuldigend aus, aber der Gastgeber sagte nur: "Na, wenn Sie da nicht gerade einen Verwandten erschlagen haben!"

Der Gastgeber hatte recht.

"Drosophila melanogaster" ("Die Fruchtfliege") besitzt 13601 Gene, und 60 Prozent davon sind identisch mit denen von uns! Das heißt, keinem anderen Lebewesen gleicht der Mensch und sein Genom bis ins molekulare Detail so sehr wie der Fruchtfliege! (Siehe Tagesspiegel vom 12. 2. 2001: "Der Mensch ist enträtselt". Oder "New Science", Heft 3/01: "Wer wir wirklich sind und waren!").

Ja, das Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf: Wie da dieses höchstens drei Millimeter große Wesen niedergestreckt im Carpaccio liegt und in seiner Erbsubstanz fast genau dieselben Bauanleitungen für die Eiweißstoffe besitzt wie ich!

Ich habe schon an Kain und Abel gedacht, aber dann war mir klar, ich entschuldige mich einfach bei Drosophila im Tagesspiegel. Man kann Mücken erschlagen, Fadenwürmer oder Motten, vielleicht kann man auch noch Rinder aus der Luft abwerfen und auf dem Prenzlauer Berg zerplatzen lassen. Nicht aber Vorfahren im Antipasto! Sorry.

Derzeit beschäftige ich mich auch mit Reinkarnation und Karma, bisher allerdings noch auf unterstem Niveau. Ein Freund von mir macht nämlich derzeit eine Rückführungstherapie mit Karma-Beratung, weil er soviel Stress mit seiner Freundin hat und weil er glaubt, dass sie vielleicht im früheren Leben möglicherweise seine Mutter war.

Er war bei einem hinduistischen Heilpraktiker am Bodensee und wirkt seitdem ziemlich nachdenklich, will mir aber nicht sagen, was dabei nun genau herausgekommen ist. Nicht, dass ich vermute, dass der Heilpraktiker ihm gesagt hat, seine Freundin sei nicht seine Mutter gewesen, sondern eine Fruchtfliege, nee, aber auch ich selbst bin neuerdings sehr sensibel für die ganze Vorfahrens- und Rückführungsthematik. Falls wir nämlich wirklich wiedergeboren werden, dann inkarnieren wir uns der Lehre nach als Mensch, als Pflanze oder als Tier oder auch in geistiger Form.

In Berlin-Pankow gibt es einen Parapsychologen, der nach den Lehren des Konfuzius arbeitet. Bei dem war ich Freitag. Wahnsinnig interessant! Er hatte Menschen bei sich, die in ihrem früheren Dasein führende Persönlichkeiten des antiken Lebens waren! Über der Rezeption steht zum Beispiel ein Bild des Joseph von Eichendorff, dem Romantiker, 1788 geboren und noch heute Klient in Pankow beim Parapsychologen. Es gibt aber auch Klienten, die waren früher einmal ein Baum genauso wie es heute Bäume oder Sträucher oder Rinder gibt, die früher vielleicht Maria Stuart, Vivaldi oder Cicero waren, ist doch toll, oder?

Na ja, ich wollte mich ja eigentlich nur bei der Fruchtfliege im Carpaccio entschuldigen. Eine Fruchtfliege kann nicht zum Parapsychologen gehen, um herauszufinden, wer sie früher einmal war, obwohl ihr dies ja durchaus zusteht. Deshalb sollten wir in Zukunft alle ein bisschen bewusster sein, wenn wir irgendwo draufschlagen oder Kühe aus dem Helikopter werfen.

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