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Kultur: Führers Befehl

Gab es einen förmlichen Beschluß Hitlers, alle europäischen Juden zu ermorden? Der Berliner Historiker Christian Gerlach glaubt diese unter Historikern lange umstrittene Frage endlich beantworten zu könnenVON CHRISTIAN BÖHMEManchmal steckt auch in der Weltgeschichte das wirklich Interessante im Detail.

Gab es einen förmlichen Beschluß Hitlers, alle europäischen Juden zu ermorden? Der Berliner Historiker Christian Gerlach glaubt diese unter Historikern lange umstrittene Frage endlich beantworten zu könnenVON CHRISTIAN BÖHMEManchmal steckt auch in der Weltgeschichte das wirklich Interessante im Detail.Zum Beispiel in Heinrich Himmlers Terminkalender, den das KGB-Archiv in Moskau verwahrt: "Judenfrage.", notierte der Reichsführer SS nach einem Vier-Augen-Gespräch mit Adolf Hitler am 18.Dezember 1941.Dann folgt ein senkrechter Strich, hinter dem vermerkt ist: "als Partisanen auszurotten".Der Berliner Nachwuchshistoriker Christian Gerlach stieß auf diese Angabe bei der Arbeit an seiner Dissertation "Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland".Für Gerlach gibt es keinen Zweifel, daß die wenigen Worte das Ergebnis der Unterredung waren.Wen meinte Himmler damit? Die sowjetischen Juden? Wohl kaum.Deren Ermordung war längst beschlossene Sache.Das Töten begann nach dem Überfall auf Stalins Reich.Mit "Judenfrage" müssen nach Gerlachs Auffassung alle europäischen Juden gemeint gewesen sein.Und die von Himmler ins Auge gefaßte "Lösung" des "Problems" konnte sich nur auf das Gespräch mit dem Diktator beziehen.Gestützt auf andere Dokumente kommt der 34jährige Wissenschaftler zu einer These, die in Fachkreisen einiges Aufsehen erregt.Gerlach kann womöglich erstmals plausibel eine Frage beantworten, über die mehrere Forschergenerationen gerätselt und ausgiebig gestritten haben: Gab es eine Grundsatzentscheidung Hitlers, alle europäischen Juden, einschließlich der deutschen, zu vernichten? "Ja", sagt Gerlach im Gespräch.Und er glaubt, den Beschluß konkret auf den 12.Dezember 1941 datieren zu können.Einen Tag nach der Kriegserklärung Hitlers an die USA traf sich der Diktator mit rund 50 Reichs- und Gauleitern in der Reichskanzlei.Laut Goebbels habe sich der Parteichef "bezüglich der Judenfrage" entschlossen, "reinen Tisch zu machen.Er hat den Juden prophezeit, daß, wenn sie noch einmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei ihre Vernichtung erleben würden (gemeint ist damit Hitlers Rede vom 30.Januar 1939 vor dem Reichstag, d.Red.).Das ist keine Phrase gewesen.Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muß die notwendige Folge sein." Nach Gerlach ist der Beschluß "ein zentrales fehlendes Glied im Entscheidungsprozeß für den Mord an den europäischen Juden".Einige Historikerkollegen sehen das anders.Auf den ersten Blick scheint diese These vor allem den Funktionalisten in der Holocaust-Forschung zu widersprechen.Sie gehen davon aus, daß es nie einen direkten Befehl für den Holocaust gab, schon gar nicht von dem "schwachen Diktator" Hitler, wie ihn das Urgestein der NS-Forschung, Hans Mommsen, gerne nennt.Vielmehr habe sich die Judenverfolgung quasi selbst durch verschiedene Maßnahmen auf regionaler Ebene radikalisiert, an deren grausamem Ende die Vernichtung von Millionen stand.Entsprechend harsch fällt die Kritik der Funktionalisten an Gerlachs Schlußfolgerungen aus.Mommsen spricht zwar von einem wichtigen Beitrag zur Holocaust-Forschung, hält die Argumente aber für zu eng.Er glaube weiterhin nicht an eine zentrale Entscheidung für den Judenmord, sagt der Historiker auf Nachfrage.Auch die von Goebbels kolportierten Äußerungen vom 12.Dezember 1941 hält Mommsen für überbewertet."Hitler hat eine seiner üblichen Reden gehalten.Das war nichts Besonderes." Auch der Leiter der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, Norbert Kampe, folgt Gerlach nicht unbedingt hinsichtlich der behaupteten herausragenden Bedeutung des Datums.Allerdings hält er grundsätzlich die These für durchaus überzeugend - und für kompatibel mit Mommsens Ansatz.Bei näherer Betrachtung liegen Gerlach und der Bochumer Professor gar nicht weit auseinander.Hitler entschied offenbar nicht aus einer Laune heraus.Er mußte einen Entschluß fassen.Das verlangte die unübersichtliche Situation im Osten.Grund dafür war die von ihm im September 1941 genehmigte Deportation der deutschen Juden.Diese stellte die Behörden vor große Probleme.Keiner wußte, wie die aus dem Reichsgebiet verschleppten Juden "behandelt" werden sollten.Im litauischen Kaunas wurden im November 1941 knapp 5000 deutsche Juden sofort erschossen.In Lodz und Minsk ließen die deutsche Polizei und die Verwaltung die Eintreffenden zunächst am Leben.Eine zentrale Entscheidung zum Mord gab es zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht.Entsprechend häuften sich die Anfragen in Berlin, wie nun mit den deutschen Juden zu verfahren sei.Ständig wurde um Ausnahmeregelungen etwa für "Mischlinge" gebeten.Hitler mußte entscheiden, sollte nicht alles unkontrolliert aus dem Ruder laufen.Die antijüdische, rassistische Ideologie allein gab also sicherlich nicht den Ausschlag für den Beschluß.Insofern ist Gerlach auch kein Anhänger der Intentionalisten unter den NS-Forschern.Sie glauben, daß Hitler von Anfang an das Ziel hatte, die Juden zu vernichten, und diesen Plan in die Tat umsetzte.Allerdings: Ein zentraler Beschluß allein reichte nach Ansicht Gerlachs nicht aus, die Tötung der Juden umgehend zu beschleunigen.Schließlich organisierte man das Morden regional.Da brauchte es noch weiterer eigener Befehle und Planungen, die den Bedürfnissen vor Ort entsprachen.Dennoch ist sich der Geschichtswissenschaftler, der seine Überlegungen jetzt in der Zeitschrift "Werkstatt Geschichte" (Nr.18, Ergebnisse Verlag, Hamburg 1997) publiziert hat, sicher: Ohne Hitlers Entscheidung wäre das Schicksal der deutschen und westeuropäischen Juden ein anderes gewesen.Der 12.Dezember 1941 hatte auch für ein anderes Ereignis wichtige Folgen - die Wannseekonferenz am 20.Januar 1942.Die Meinungen über die Zusammenkunft auf Einladung Reinhard Heydrichs gehen weit auseinander.Einige Forscher wie Eberhard Jäckel können sich zum Beispiel nicht erklären, warum sie überhaupt stattfand.In der herrschaftlichen Villa hätten sich ja nur untergeordnete Chargen versammelt.Womöglich sei es Heydrich nur darum gegangen, sich selbst darzustellen.Andere sehen in der Konferenz einen wichtigen organisatorischen Schritt auf dem Weg zur "Endlösung".Eine überzeugende Erklärung hat bislang keiner.Vielleicht kann auch hier Gerlach Licht ins Dunkel bringen.Er sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Hitlers am 12.Dezember bekanntgegebener Entscheidung und der Wannseekonferenz.Seit Jahrzehnten grübeln Historiker, warum das für den 9.Dezember 1941 anberaumte Treffen nur einen Tag davor abgesagt wurde.Das ist vermutlich auf das politische Durcheinander dieser Tage zurückzuführen.Unter anderem hatte der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor am 7.Dezember die deutsche Führung überrascht.Trotzdem bleibt die Frage, wieso noch sechs Wochen vergingen, ehe sich die Vertreter der Ministerialbürokratie, der Partei und der Gauleiter versammelten.Gerlachs Antwort ist überzeugend einfach: Die Voraussetzungen und damit das Thema der Konferenz hatten sich nach Hitlers Rede grundlegend geändert.Ursprünglich sollte es darum gehen, wie mit den deportierten deutschen Juden zu verfahren ist und wie sie definiert werden sollten.Die "Nürnberger Gesetze" hatten sich als wenig praktikabel erwiesen.Nach dem Führer-Beschluß stand nun tatsächlich die "Endlösung der europäischen Judenfrage" auf dem Programm.Für Gedenkstättenleiter Norbert Kampe "eine überzeugende Erklärung für die Vertagung.Hitler hatte offenbar persönlich das Mordprogramm auf alle Juden Europas ausgeweitet und damit die Hauptakteure in den Mordapparaten überrascht".Trotzdem war aus Heydrichs Sicht die Konferenz ein - nicht unbedingt zu erwartender - Erfolg.Denn es hätte durchaus sein können, daß die Anwesenden Einspruch gegen die "Behandlung" der deutschen Juden erheben - nicht aus moralischen, sondern aus politischen Gründen wie zum Beispiel die Furcht vor möglichen Protesten der Bevölkerung.Doch die hohen Herren hatten nichts einzuwenden.Bedenken wurden nicht erhoben.Einzig in der Frage, was aus den "Mischlingen 1.und 2.Grades" werden sollte, gab es keine Einigkeit.Und: Was Heydrich am 20.Januar 1942 als Plan für den Mord an den Juden vortrug, konnte nur vorläufigen Charakter haben.Dennoch schuf Hitlers Entscheidung eine neue Grundlage für die Planung des größten Menschheitsverbrechens.Gerlach betont, daß damit niemand der am Mord Beteiligten entlastet wird."Sie hatte nur zur Folge, daß die vielen schon bestehenden Ideen, Vorschläge und Initiativen für Vernichtungsaktionen auf regionaler Ebene gestützt, legitimiert, systematisiert wurden und einen neuen Antrieb bekamen."Die Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz widmet ihren Vortrag zum Jahrestag der Konferenz der neuen Forschung.Am 19.Januar spricht Peter Longerich über "Die Wannseekonferenz.Zu Planung und Beginn des Genozids an den europäischen Juden".

CHRISTIAN BÖHME

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