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Kultur: Gebet und Giftspritze

Kai Müller

Noch während über das Tabu gestritten wird, ist es schon gefallen. Diese Dynamik der Grenzverletzung könnte nun auch eine der letzten Bastionen unserer Zivilisation ereilen: „Darf ein schwer kranker Mensch seinem Leben mit ärztlicher Hilfe ein Ende setzen?“, fragt die „Zeit“ in ihrer jüngsten Ausgabe. Die Antwort ist bereits ein Teil der Frage. Natürlich darf er, lautet unser Reflex, wer wollte einem Todkranken diese Bitte auch ausschlagen. Es ist ja sein Leben, nicht wahr?

Dabei gibt es schwerwiegende moralische Argumente, die gegen die aktive Sterbehilfe sprechen. So befürchten ihre Kritiker eine Entsolidarisierung der Gesellschaft mit den Schwächsten. Die Barrieren würden wegfallen, die im Moment noch verhindern, dass Verwandte unter dem Fürsorgedruck gegenüber ihren Nächsten zusammenbrechen oder sogar die Kranken selbst niemandem mehr zur Last fallen wollen und die Giftspritze als letzten Ausweg wählen. Darüber hinaus kollidiert die Bitte an den Arzt, dem Leiden ein Ende zu setzen, mit dessen hippokratischem Selbstverständnis: „Der Arzt soll und darf nichts anderes tun, als Leben erhalten“, heißt es da. Gestritten wird in medizinischen Kreisen lediglich darüber, ob das Bedürfnis nach schmerzstillenden Mitteln wichtiger ist als nach lebenserhaltenden. Schließlich stehen die Kirchen einer Lockerung des Paragraphen 218 am unversöhnlichsten gegenüber. Weil für sie die absolute Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens oberste Priorität hat. Und zudem im Leidensweg des unheilbar Kranken etwas von der göttlichen Passion auf den Einzelnen zurückfällt, für die Christus verehrt wird.

Bei all diesen Argumenten wird auf die Härte eines ethischen Imperativs gesetzt, den die Gesellschaft längst aufgeweicht hat. Die Gemeinschaft der atomisierten Ego-Ichs ist nicht rigoros genug, das Leiden und den Schmerz anderer Menschen mit dem Argument hinzunehmen, dass Jesus auch gelitten hat. Oder den Tod als Erlösung zu begreifen, um deren Früchte sich bringt, wer nicht durchhält und die „Eintrittskarte“, so der Theologe Harry M. Kuitert, vor Ende der Vorstellung zurückgibt.

Auch das Argument, dass sich im Tod das Leben erst „vollendet“, dürfte in unserem Kulturkreis immer weniger Befürworter finden. Vor allem unter den Nachkriegsgenerationen. Besteht doch für uns Wohlstandskinder und Erfahrungsjunkies die Vollendung des Lebens darin, thrilling moments zu sammeln, die den Tod schon vorwegnehmen, symbolisch.

Wie wenig das am Ende vielleicht zählt, demonstriert der ebenso erschütternde wie erhellende Fotoband „Noch mal Leben vor dem Tod“ (DVA), dessen Bilder derzeit im Berliner Willy-Brandt- Haus ausgestellt werden. Die Bilder von Walter Schels zeigen Menschen kurz vor und nach ihrem Ableben. Obwohl die Geschichten dieser Hospiz-Patienten, denen medizinisch nicht mehr zu helfen ist, furchtbar ungerecht erscheinen und der Todeskampf ein oft erbärmliches Ringen ist, liegt eine Größe in ihrem Abschied. Der immer zu schnell kommt.

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