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Kultur: Geborgen, frei Entnazifiziert mit Pippi: eine Erinnerung

Irgendwas stimmte von Anfang an nicht. Ein schwarzes Geheimnis umgab die Erwachsenen.

Von Caroline Fetscher

Irgendwas stimmte von Anfang an nicht. Ein schwarzes Geheimnis umgab die Erwachsenen. „Das ist nichts für Kinder“, sagten sie, wenn Kinder zu viel fragten. „Warum hat der Mann da auf der Straße nur ein Bein?“– „Der hat das andre im Krieg verloren – starr nicht so hin!“ Krieg? Worte gab es, die umflort waren und nebulös blieben. Von einer ominösen „Ostzone“ sprachen die Älteren leise, und davon, dass der Mann und der Bruder der Nachbarin „gefallen“ waren. Hingefallen? Aber wieso lebten sie dann nicht mehr? Etwas Unaussprechliches durchzog die Kindheit. Während die ältere Generation von Prozessen gegen Kriegsverbrecher hörte, wuchsen in ihr Scham und Abscheu gegen sich selbst. Oft kehrte sich aufgestaute Aggression gegen die Schwächsten, die Kinder. Was war nur los? Man kam nicht dahinter.

Doch dann gab es eine helle Parallelwelt, zu der uns Eltern, Lehrer oder die Dame in der Leihbibliothek die Tore öffneten, ohne genau zu wissen, was sie taten: Astrid Lindgrens schwedische, demokratische Kinderwelt. In diesem Kosmos tobten Lasse, Bosse, Ole und Lisa über die Wiesen zwischen ihren Höfen. Die Kinder aus Bullerbü ließen ein Lamm bis in die Schule mitlaufen, sie versteckten sich im Heu und spielten spukende Geister, die sich in Gelächter auflösten. Kostbaren Krimskrams horteten sie in verborgenen Schatullen. Wenn sie bei der Rübenernte halfen, dachten sie sich eine Nonsens-Sprache aus, damit es lustiger war. Beim Lesen fühlten schon Erstklässler, dass etwas ganz anderes, etwas von Grund auf Gutes, Heiteres möglich war. In Lindgrens Welt waren die meisten Erwachsenen freundlich und transparent. Es waren die Kinder, die da Geheimnisse hüteten, harmlose und schöne, mit denen sie sich auf den Weg machten zu ihrer eigenen Individualität.

„Geborgenheit und Freiheit“, so beschrieb Lindgren ihr Rezept für Glück in der Kindheit. Bei den Nachkriegsdeutschen war beides rar. Aber Lindgren hat uns eine Idee davon gegeben, als wir mit fünf, sechs, sieben anfingen, ihre Helden als eine weitere Wahrheit neben unserer Wirklichkeit wahrzunehmen.

Lindgrens Bücher aus dem nichtfaschistischen Schweden markierten die heimliche Entnazifizierung unserer Kindheit. Ohne dass ein pädagogischer Plan dazu aufgestellt worden war, revolutionierte die anarchische, mutterlose Pippi Langstrumpf – deren Endfassung 1945 entstand! – unsere Seelen. Bei jedem Wiederlesen gab es Tränen der Erleichterung, wenn Mio auf magische Weise dem grausamen Ritter Kato entkam. Verwegen und verheißungsvoll surrte der Propeller des Anstifters Karlsson über den Dächern, und wer mit dem abenteuerfreudigen Michel im Schuppen saß, der war getröstet. Mitten im Strafraum konnte man immerhin was Eigenes schnitzen. So hyperidyllisch oder infantil uns die Szenarien heute vorkommen, Astrid Lindgrens kleine Lichtleute ließen uns emotional überleben. Dafür hat sie den Nobelpreis der Kinderseele verdient. Caroline Fetscher

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