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Kultur: Gegen die Angst

Der Schriftsteller David Grossman über Israel, die Palästinenser – und warum Krieg einfacher ist als Frieden

Herr Grossman, Sie schreiben Erzählungen, Romane und Essays. Fällt es Ihnen leicht, zwischen Politik und Literatur zu wechseln?

Ich habe die Hoffnung schon aufgegeben, mein Leben in irgendeiner Weise zu harmonisieren. Wenn ich schreibe, versuche ich, die Wirklichkeit auszuschalten. Dann höre ich plötzlich die Sirene eines Krankenwagens. Wir leben gegenüber der zentralen Ambulanz in Jerusalem. Dann höre ich zwei Sirenen, und ich werde nervös. Schließlich drei, und ich weiß, das ist keine Epidemie gebärender Frauen. Ich mache das Radio an. Jeder Israeli kann innerhalb von zwei Sekunden erkennen, ob etwas passiert ist: an der Stimme des Moderators, am Fehlen von Musik und Werbung. Und dann müssen wir auf die Nachrichten warten: Wie viele sind getötet worden? Jeder hofft, niemanden persönlich zu kennen. Aber in den letzten vier Jahren kannten wir natürlich immer jemanden. Später die Beerdigungen oder die Besuche im Krankenhaus. Es ist eine entstellende Routine. Doch man gewöhnt sich daran. Wir sind nicht so geschockt wie zu Beginn der Selbstmordanschläge.

Was kann Literatur bewirken in Zeiten eines unerklärten Krieges?

Für mich ist Literatur in Zeiten des Krieges wie des Friedens wichtig. Es ist unsere Art, uns selbst und andere zu verstehen. Uns unsere Geschichte zu erzählen und andere Bereiche unserer Seele zu erkunden. In einer Wirklichkeit wie der israelischen besteht die Gefahr, durch Angst und Misstrauen zu versteinern. Es ist daher sehr wichtig, uns an die wertvollsten Dinge im Leben zu erinnern. Was macht uns zu Menschen? Dass Menschen in dieser Situation keine Energie mehr haben, über diese Frage nachzudenken, ist vielleicht der größte Preis, den wir für das Leben in dieser Katastrophenzone zahlen.

War der Tod von Yassir Arafat eine gute oder eine schlechte Nachricht?

Beides ist möglich. In den letzten vier Jahren war Arafat für Bush und Scharon die Entschuldigung, nicht mit den Palästinensern zu verhandeln. Diese Entschuldigung gibt es jetzt nicht mehr. Wir werden mit einer palästinensischen Regierung zu verhandeln haben. Ich glaube nicht, dass die Regierung, die im Januar gewählt wird, in einen seriösen Friedensprozess eintreten kann und fähig sein wird, die nötigen schmerzhaften Konzessionen zu machen – etwa die Forderung nach der Rückkehr aller Flüchtlinge aufzugeben. Um das zu erreichen, ist vielleicht eine Kombination von verschiedenen Typen palästinensischer Führer nötig. Einer könnte Mahmud Abbas sein, der das Vertrauen von Israel, den USA und von Teilen der palästinensischen Gesellschaft genießt. Aber wir brauchen einen palästinensischen Führer, der das Vertrauen und die Unterstützung der Straße genießt. Ich fürchte, Israel wird mit jemandem verhandeln müssen, der aktiv gegen Israel und die Besetzung gekämpft hat. Ein Name wird gegenwärtig immer wieder genannt: Marwan Barghuti, inhaftiert zu fünfmal lebenslänglich wegen seiner Beteiligung an der Ermordung von fünf israelischen Bürgern. Ich weiß nicht, ob Israel ihn freilässt. Aber vielleicht gibt es einen internationalen Agentenaustausch: Die Ägypter lassen irgendeinen legendären israelischen Spion frei, und wir können Barghuti entlassen – und erhielten ein handlungsfähigeres palästinensisches Gegenüber.

Ausgerechnet Scharon kündigt die Räumung von Siedlungen an. Warum hat er seine Politik so dramatisch geändert?

Vielleicht sollte man fragen, warum er seine früheren Überzeugungen so lange beibehielt. Er war schon vor Jahren clever genug zu erkennen, dass Israel nicht über 3,5 Millionen Palästinenser herrschen kann. Dennoch errichtete er immer neue Siedlungen. Warum hat er seine Meinung nun geändert? Als Premierminister kann man sich nicht mehr wie ein Kind verhalten und alles fordern. Man ist Druck von außen wie innen ausgesetzt. So kam Scharon zu der brillanten Idee, Siedlungen im Gazastreifen zu räumen. Damit erkennt er das totale Scheitern der rechten Ideologie an. Und er gibt zu, dass Israel schließlich nicht nur Gaza, sondern auch die Westbank räumen muss. Ich glaube nicht, dass alle Siedlungen geräumt werden. Die zukünftige Lösung wird wohl ein Gebietsaustausch sein. Die einzige Frage ist, wie viele Menschen bis dahin noch sterben. Sollte der nächste Premier Netanjahu heißen, werden wir dieselbe Wandlung erleben. Und wieder werden wir Bürger mit unseren Leben seine politische Erziehung bezahlen – wie schon bei Rabin, Barak, Netanjahu und Scharon.

Warum wählen Israels Bürger ihre gereiften Premiers dann immer wieder ab?

Wir haben keinen Politiker, der die Hoffnungen der Bevölkerung anspricht. Die Israelis wählen immer wieder Politiker, die ihre Ängste ansprechen und ihnen garantieren, dass sie Opfer bleiben. Denn wenn man ein Opfer ist, ist man immer Recht. Im Frieden könnten wir den Opferstatus hinter uns lassen. Für uns wäre das sehr wichtig. Das erste Mal könnten wir sagen: Wir sind stark genug, unser Schicksal zu gestalten, begrenzte Risiken einzugehen.

Ist der Frieden nicht eine Gefahr für Israel? Jetzt hält der Krieg das Land zusammen.

Wir müssen es versuchen. Ich möchte nicht in einem Staat leben, dessen raison d’etre die Angst vor äußeren Gefahren ist. Israels Identität ist durch einen Feind, durch Krieg und Gewalt geformt. Es ist an der Zeit, das zu ändern.

Brechen dann nicht gewaltige soziale und kulturelle Konflikte in Israel auf?

Sie sind bereits aufgebrochen – durch die gegenwärtige Situation. Jede Gruppe betrachtet die andere als Gefahr. Nach so vielen Jahren, in denen wir uns über einen Feind definiert haben, ist dies Motiv in uns eingedrungen. Jeder kann ein Feind sein, auch, wenn er mein Bruder ist. Linke gegen Rechte, Orthodoxe gegen Säkulare, Askenazim gegen Sephardim, Reich gegen Arm, Neuankömmlinge und Alteinwohner – es ist alles auseinander gerissen. Es gibt kein gemeinsamen Geist, keinen Respekt vor dem Staat und der Demokratie. Wenn die äußeren Gefahren nachlassen, könnten wir in uns gehen.

Was halten Sie von der Mauer, die Israel gegen Selbstmordattentäter baut?

Wo die Mauer steht, ist sie sehr effektiv. Dort sind die Selbstmordanschläge dramatisch zurückgegangen, ebenso die Diebstähle von landwirtschaftlichem Gerät und Autos. Aber ich denke, dass die Mauer falsch ist. Wir brauchen eine Grenze zwischen uns und den Palästinensern – einmal aus Sicherheitsgründen, und weil keiner von uns eine Vorstellung von einer Grenze besitzt. Die israelischen Grenzen im Süden, Norden und Osten haben sich ständig verändert. Die einzige klare Grenze ist das Mittelmeer im Westen. Sie ist jedem Israeli bewusst, zum Teil, weil Araber früher und noch heute versprechen, uns dort hinein zu treiben. Wir leben wie in einem Haus, dessen Wände sich dauernd bewegen. Keiner weiß, wo der andere anfängt und wo er aufhört. Die Versuchung zur Invasion ist groß, ebenso wie die Angst davor. Wir setzen eine lange jüdische Tradition fort: Unsere Existenz in der Diaspora war grenzenlos. Wir brauchen feste Grenzen. Aber sie müssen gemeinsam festgelegt werden, nicht einseitig. Die Mauer macht Terroristen nur kreativ: Bald werden sie Raketen hinüberschicken. Die Mauer löst kein Problem, das wissen Sie als Deutscher. Der Konflikt ist zu lösen, indem man auf die Befürchtungen und Bedürfnisse des anderen Volkes reagiert und sie unsere Befürchtungen und Bedürfnisse ernst nehmen. Dann können wir so etwas wie Normalität bekommen.

Das Gespräch führte Jörg Plath.

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