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Kultur: Genie und Blödsinn

Warum soll man sich für die russische Literatur von heute interessieren? Eine Antwort von Sergej Bolmat

Gleich vorneweg: Es geht hier nicht nur um die Art von Literatur, in der sich ein auf Seite 15 flüchtig erwähnter Cousin des Haushofmeisters der Gräfin als Mörder entpuppt. Sondern um Bücher, in denen ein Komma die Welt verändern kann.

Zeitgenössische russische Belletristik wird, bis auf Krimis, in Deutschland wenig gelesen. Sie steht nicht auf den Bestsellerlisten und findet sich nur spärlich in den Buchhandlungen. Deutsche und französische Bücher gibt es reichlich, noch mehr englische und amerikanische, auch japanische, italienische und spanische. Aber russische? Veröffentlicht wird viel, verkauft nur wenig – übrigens auch in Russland, wo viele neue Texte zuerst im Netz erscheinen und gedruckt normalerweise mit einer Auflage von höchstens 5000 Exemplaren starten.

In diesem Jahr werden in Deutschland – die Neuauflagen älterer Titel und Klassiker nicht gerechnet – die Übersetzungen von rund 50 russischen Büchern erscheinen. In den Medien gleicht das kritische Fazit dabei manchmal den Angaben im Pass: Roman, russisch. Alter des Autors: 40. Besondere Kennzeichen: wunderbar lakonische Personenbeschreibungen, gepaart mit detaillierten Schilderungen des Alltagslebens. Wie soll das genügen, damit Autor und Leser einen Weg zueinander finden? Anders als beim Besuch eines Heiratsinstitutes verlangt die Bekanntschaft mit Büchern nämlich vom ersten Augenblick an einen gewissen Grad von Intimität.

Die Behauptung, in der russischen Literatur sei eine neue Generation von Schriftstellern aufgetaucht, ist nur insoweit richtig, als tatsächlich nicht mehr nur Andreï Makanin und Ljudmila Ulitzkaja gedruckt werden, sondern auch Autoren, die erst rund 30 Jahre nach diesen Koryphäen des späten sozialistischen Realismus lesen und schreiben gelernt haben. Sehr oft steckt in diesen neuen russischen Büchern von Pavel Krusanov oder Vladimir Tutschkov aber nicht viel Neues und nicht viel Russisches. Die meisten Autoren wurden in der Zeit zwischen Chruschtschows Tauwetter und dem Prager Frühling geboren, und sie hatten das Pech, in der wohl ödesten Periode der sowjetischen Geschichte aufzuwachsen. Ihre Weltanschauung formte sich, als alle noch überzeugt waren, Leonid Breschnew werde ewig leben.

Die Generation vor ihnen, die Generation von Sergej Dowlatow, Wassili Aksjonow und Jewgeni Jewtuschenko, Arseni Tarkowski und Wladimir Wyssozki hatte zum Teil eine ganz naive Einstellung zum Stalinismus. Einige waren noch direkt aus der großen vorrevolutionären Kultur hervorgegangen, andere folgten voller Begeisterung Nikita Chruschtschows Aufrufen zum Ein und Überholen Amerikas – und alle waren sie durch die Schule des Krieges gegangen.

Die Autorengeneration nach ihnen wusste dann alles über den Terror, hielt das Gerede von der lichten Zukunft für zynisches Geschwätz und verfügte kaum über eigene Lebenserfahrung. Diese Generation durchlebte die ganz und gar nicht romantische Verzweiflung von Menschen, deren kulturelle Traditionen aufs Äußerste deformiert wurden und deren kulturelle Perspektiven erbärmlich waren. Anders als die Figuren von Alfred de Musset hatten die in der Zeit der Stagnation groß gewordenen Russen nicht die Wahl zwischen Wein und Kurtisanen – sie hatten nur Wodka und billige Drogen. Eben diese Menschen wurden die Helden der russischen Literaturszene, die seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre die Diskussion bestimmt.

Sowjettrash, hausgemacht

Die Rhetorik der Breschnew-Zeit war dürftig, verantwortungslos, geschwätzig, einförmig, nichtswürdig, primitiv und feige. Sie hatte nichts mit dem Fach gemein, das heute an fast jeder durchschnittlichen europäischen oder amerikanischen Universität gelehrt wird. Das Wort „Rhetorik“ selbst bekam damals einen negativen Beigeschmack. Verbal behauptete die Ideologie hartnäckig den Vorrang der Materie über die Idee, aber tatsächlich war es anders herum. Es kam darauf an, etwas ideologisch Unangreifbares zu schreiben: je kunstloser, desto besser – das galt als Beweis für Wahrhaftigkeit.

Mit dem Beginn eines freien Marktes für Literatur waren die avantgardistischen Autoren sofort in einer relativ günstigen Situation. Der talentierteste unter ihnen, Vladimir Sorokin, interessierte sich in seinen frühen Werken vor allem für hausgemachten sowjetischen Trash und die Parodie auf universalen Trash. Bis zu einem gewissen Grad ist Sorokins zentrale Figur – der sowjetische Ingenieur, der zu Hause mit der Leiche seiner Schwester kopuliert – mit dem New Yorker Börsenmakler bei Bret Easton Ellis vergleichbar, der die Leiche seiner Freundin aufisst.

In Sorokins beiden letzten Romanen hat sich die Thematik deutlich verändert. „Der himmelblaue Speck“ ist ein fantastischer Abenteuerroman, in dem Ankömmlinge aus der totalitären Vergangenheit unter Lebensgefahr eine Geheimsubstanz rauben, die in der nahen Zukunft aus geklonten Schriftstellern der klassischen russischen Literatur gewonnen wird. Wichtige Personen und Beziehungen gibt es praktisch nicht, dafür viele literarische und historische Anspielungen, amüsante Anachronismen, skurrile Beschreibungen und bizarre Szenen. Es ist eine ausgesprochen dekorative Prosa, die sich aber unerwartet leicht liest und auch wiederholte Lektüre verträgt, was in der zeitgenössischen Literatur, die zum größten Teil Wegwerfliteratur ist, selten vorkommt. Sorokins neuer Roman „Eis“ (siehe die Rezension Seite 33) ist leider nur ein fader Aufguss des selben Themas.

Viktor Pelewin, dessen Werke in Auflagen bis zu 100000 Stück erscheinen, ist bis heute der bekannteste russische Autor. Anfang der 90er Jahre war er der Einzige, der moderne Prosa in russischer Sprache schrieb. Damals wurden seine besten Bücher veröffentlicht: die Erzählungen „Eremit und Sechszeh“, „Der Prinz von MinPlan“, der Roman „Omon hinterm Mond“. Pelewins beliebtestes Buch „Generation P" ist im Stil jenes gesunden Pragmatismus geschrieben, der für ein so dynamisches und witziges Sujet notwendig ist. Allerlei scharfsinnige Wortspiele schmücken das Buch. Im Augenblick zerreißt die russische Kritik freudig sein neues Buch mit dem vielsagenden Titel „Dialektik der Übergangszeit vom Nirgendwoher ins Nirgendwohin“.

Viele andere russische Autoren wirken eigenartig oder provinziell. Die besten Bücher aus dieser Kollektion gehören entweder zur Kategorie der ornamentalen oder zur Kategorie der lyrischen Prosa. Hauptheld dieser Art von Literatur ist im einen Fall die Sprache, mal virtuos, mal schwerfällig, im anderen Fall der Autor selbst, bescheiden in Gestalt eines mehr oder weniger zutraulichen Ichs auftretend, manchmal auch beides gleichzeitig.

Oleg Jurjews Roman „Die Halbinsel Judatin“ (im Original: Shidjatin) steht in der Tradition jener ornamentalen Prosa. Die Romanhandlung geht von der Doppelbedeutung des Wortes „shid“ aus: Es heißt sowohl „Jude“ wie „Mitglied der russischen religiösen Sekte der Judaisten“, einer Sekte, die sich Anfang des 18. Jahrhunderts nach den Reformen des Patriarchen Nikon bildete. Der Roman handelt von der Wechselseitigkeit nationaler Vorurteile, erinnert in seiner Themenwahl und seiner lexikalischen Dichte an Milorad Pavic (der in fast jedem russischen Buch präsent ist, das sich mit nationalhistorischen Problemen beschäftigt) und ist vom Aufbau her extrem einfach: zwei Bücher in einem, randvoll mit farbigen Skizzen aus dem Alltagsleben. In Tatjana Tolstajas Buch „Kys“ (Rowohlt Berlin) wuchern die stilistischen Spitzfindigkeiten derart, dass sie für den Leser zu oft seitenlangen Knobelaufgaben werden.

Die Protagonisten von Roman Sencin (siehe Kritik Seite 33) und Ilja Stogoff dagegen existieren in einem fast völlig natürlichen sprachlichen Milieu. Ihr größtes Plus ist die charakteristische Intonation des Autors. In Sencins Roman „Minus“ ist es das gehetzte Tempo des routinierten Erzählers, das Ich des Buchs ist noch deutlich vom Ich des Autors abgesetzt. In Stogoffs Buch „Machos weinen nicht“ (Droemer/Knaur) ist es der verwundert melancholische Ton persönlicher Gedanken und Betrachtungen, die oft mitten im Satz abreißen. Der Held seiner Bücher steht dem Verfasser erheblich näher.

Den Versuch, die Distanz zwischen Autor und Held auf Null zu reduzieren, unternimmt die 20-jährige Irina Denežkina in ihrem Erzählungsband „Komm“ (S. Fischer Verlag). Die totale kulturelle Indifferenz ihrer Texte ist frappierend: Von einem derartigen Nullpunkt ausgehend, lässt sich eine wunderschöne neue Welt aufbauen. Manchmal taucht russische Literatur auch weit entfernt von Russland auf. Die in Deutschland beliebten Bücher von Alexander Ikonnikow (Rowohlt Verlag) kennt in der Heimat des Autors so gut wie niemand. Deutsche Slawisten erzählen ihren russischen Kollegen mit berechtigtem Stolz davon. In dem Roman „Das französische Testament“ hat Andreï Makine eine Inkarnation Marcel Prousts in einer fiktiven russischen Provinz angesiedelt, damit dieser derart „gewendete“ Autor (der aus Nowgorod stammende Makine lebt in Paris und schreibt auf Französisch) in der nur spärlich besiedelten Einöde endlos ein fiktives Frankreich erschaffen kann. Für diesen raffinierten Roman erhielt er unter anderem den Prix Goncourt. Makines neues Buch, der historische Roman „Musik eines Lebens“ (Hoffmann & Campe), ist noch nicht in seine Muttersprache übersetzt, aber er kann schon den Anspruch erheben, zu den besten Beispielen russischer Belletristik zu gehören.

Besonders radikale Verleger haben sich in letzter Zeit einer Literatur unverhüllt stalinistischer Prägung zugewandt. Dieser Umstand erklärt sich aus den Besonderheiten des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft. Auf die sich keiner spekulativen Reduktion unterordnende Vielfalt reagierten manche mit dem Versuch, die russische Kulturszene zu politisieren und zu polarisieren, indem sie jegliche Art von Mittelmäßigkeit begünstigende Orientierungspunkte wie „Rand“ und „Mitte“, „Oben“ und „Unten“, „Links“ und „Rechts“, „Reich“ und „Arm“ setzten.

In den 30er Jahren hatte Stalin als oberster Verleger die sowjetischen Schriftsteller mit der Fließbandproduktion von literarischen Meisterwerken beauftragt. Eine ganze Gruppe von professionellen Kulturschaffenden, die alle auf die eine oder andere Weise der Ideologie des Bolschewismus oder ihrer künstlich wiederbelebten Erscheinungsform anhängen, widmet sich nun dem Ziel, an diese Bemühungen anzuknüpfen. Bei der Lektüre ihrer Bücher – verfasst bald von ehemaligen Sowjetbürokraten, bald von Studenten, bald von erfolglosen Emigranten oder von Hausfrauen – betritt man mit heiligem Schauder die pittoresken Gefilde von purem, unverfälschtem Schund.

Sergej Bolmat, 1960 in St. Petersburg geboren, studierte zunächst Konzeptdesign. Mit seinem Debütroman „Klick“ avancierte er 2001 zum Literaturstar. In Moskau trugen junge Mädchen Disketten mit seinem Text um den Hals. Im Münchner C.H. Beck Verlag ist gerade sein Roman „In der Luft“ erschienen. Bolmat lebt heute in Düsseldorf. Sein Essay wurde von Margret Fieseler übersetzt.

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