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Kultur: Gentechnik: Moral gegen Moral

In Amerika, im Bundesstaat South Carolina, wurde vor kurzem ein spektakuläres Urteil gefällt. Eine drogensüchtige, obdachlose schwarze Frau hatte mit 22 Jahren ein totes Kind zur Welt gebracht.

In Amerika, im Bundesstaat South Carolina, wurde vor kurzem ein spektakuläres Urteil gefällt. Eine drogensüchtige, obdachlose schwarze Frau hatte mit 22 Jahren ein totes Kind zur Welt gebracht. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie Crack geraucht, eine in den USA weit verbreitete Variante von Kokain. Spuren der Droge fanden sich in dem toten Kind. Wegen Totschlags wurde die junge Frau zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Die Geschworenen sahen es als erwiesen an, dass sie die Folgen ihres Handelns hätte einschätzen können und der Drogenkonsum den Tod ihres Kindes verursacht habe. Im Rechtssystem von South Carolina genießt auch ein Fötus den absoluten Schutz des menschlichen Lebens.

Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, Bundespräsident Johannes Rau, die Grünen und die katholische Kirche müssten dieses Gerichtsurteil in seiner Tendenz begrüßen. Denn die rigorose Position, die sie in der Debatte über die Gentechnik beziehen, unterscheidet sich in ihrem Kern nicht von der Moralität, die die US-Geschworenen zum Ausdruck brachten. Gemeinsam berufen sie sich auf ein Konzept der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens, das zwischen dem rechtlichen Status einer gerade befruchteten Eizelle und dem eines neugeborenen Kindes nicht differenziert. Vor der logisch gebotenen Konsequenz, dann auch Abtreibungen strikt ablehnen zu müssen, drücken sich die Grünen freilich - zu groß ist für einige von ihnen der Grusel, den ihnen die gentechnische Entwicklung verursacht.

Die Logik der Konsequenzethiker

Das hatten wir schon einmal. Auf bizarre Weise erinnert die Diskussion über die Gentechnik an die letzte große moralische Auseinandersetzung - die vor 20 Jahren ebenso leidenschaftlich geführte Debatte über die nukleare Abschreckung. Auch damals ging es um eine "fundamentale ethische Frage" (Rau). Kaum einer bestritt ernsthaft, dass der massive Einsatz von Nuklearwaffen verwerflich ist, weil dadurch zahllose unschuldige Menschen getötet würden und die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel stehe. Die Gegner der Abschreckung sagten, deshalb sei auch die Drohung mit nuklearen Massenvernichtungswaffen verwerflich, weil sie die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes mit sich bringe. Die von der Gegenseite vorgetragenen positiven Konsequenzen der Abschreckung zählten nicht, weil eine absolutistische Argumentation per se keinen Raum lässt für Nützlichkeitserwägungen.

In diesem Fall hat die Geschichte die Konsequenzethiker belohnt. Im Fall der Gentechnik steht das Duell noch unentschieden. Jegliches Werten und Gewichten, Abwägen und Berechnen jedoch aus der moralischen Debatte zu verbannen - wo die Menschenwürde berührt ist, zählen solche Argumente nicht, sagt Rau in seiner Berliner Rede -, zeugt vor allem von einer tief sitzenden Angst. Es ist die Angst vor dem Verlust der Maßstäbe und dem Triumph der Willkür. Ohne Zweifel nährt der wissenschaftliche Fortschritt solche Ängste. Bei der Atomenergie war das nicht anders. Wer sich in die moralisch puristische Ecke zurückzieht, hat das Gefühl, sobald er Konsequenzen in sein Kalkül mit aufnehmen muss, dem Teufel schon Tür und Tor zu öffnen. Daher sei eine absolute "Grenzziehung" (so Rau) geboten.

Theologisch gesprochen weigert sich der Purist, jene ganz welthafte Schuld auf sich zu laden, die jeder trägt, der sich in einer Konfliktsituation, also in einem moralischen Dilemma, entscheiden muss. Ein Dilemma kann entstehen, wenn die Verwerflichkeit einer Handlung sich im Widerspruch befindet zu den voraussichtlich schlechten Folgen, die eine Unterlassung dieser Handlung nach sich zöge. Die Folter eines Menschen etwa ist unter allen Umständen verboten. Aber wenn sie die einzige Möglichkeit wäre, von einem Terroristen zu erfahren, wie die von ihm gezündete Atombombe unschädlich gemacht werden kann, ist sie wahrscheinlich gerechtfertigt. Puristen diskutieren solche Beispiele, die Aufschluss geben über die Komplexität moralischer Empfindungen, nur ungern.

Die embryonale Stammzellen-Forschung ist dagegen ein ganz konkretes, ein unmittelbares Problem. Bei der künstlichen Befruchtung entstehen weltweit Jahr für Jahr viele Tausende befruchtete Eizellen, die nicht in die Gebärmutter eingesetzt werden. Keiner weiß, was langfristig mit ihnen geschehen soll. Allgemein herrscht Ratlosigkeit. In Ländern, wo sich der Skrupel Gehör verschafft hat, werden sie eingefroren, in anderen Ländern vernichtet. Die medizinische Forschung ist nun einigermaßen sicher, dass sich mit Hilfe embryonaler Stammzellen, die aus den befruchteten Eizellen gewonnen werden können, für viele gravierende Krankheiten künftig neue Heilchancen ergeben. Kein anderer Weg verspricht, dermaßen erfolgreich zu sein. Bei der embryonale Stammzellen-Forschung wird nichts extra gezüchtet, manipuliert oder selektiert. Sondern es wird lediglich auf das Material zurückgegriffen, das ohnehin entweder auf unabsehbare Zeiteingefroren bleibe oder weggeschmissen werde. Trotzdem sagen die Puristen nein.

Ihre Begründung ist dieselbe, wie sie Abtreibungsgegner gegen die Abtreibung und Pazifisten gegen das Töten vorbringen: Der Zweck heiligt niemals die Mittel, menschliches Leben ist grundsätzlich und ausnahmslos unantastbar, und menschliches Leben beginne nun mal mit dem Eindringen des Samens in die Eizelle. Aber haben nicht auch schwerkranke Menschen das Recht, wenn es der wissenschaftliche Fortschritt erlaubt, von ihrem Leiden erlöst zu werden? Ist es wirklich besser, die befruchteten Eizellen eingefroren zu lassen, als mit ihrer Hilfe Leiden zu lindern?

Der puristischen Haltung steht das Konzept einer gestaffelten Schutzwürdigkeit des Menschen gegenüber. Es ist wirklichkeitsnäher, weil sich unsere moralischen Empfindungen darin besser widerspiegeln. Demzufolge ist die embryonale Stammzellen-Forschung weniger verwerflich als die Abtreibung eines zweimonatigen Embryos, und diese wiederum ist weniger verwerflich als die Tötung eines zweijährigen Kindes. Im ersten Fall sind konsequentialistische Erwägungen weit eher von Gewicht als im zweiten Fall, im dritten Fall wiederum scheiden sie weitgehend aus.

Die Weltflucht und ihr Preis

Für Puristen ist das eine wie das andere gleich verwerflich. Zwischen der gegenwärtigen Abtreibungspraxis und einem Gesetz, das es erlauben würde, jedes Jahr Hunderttausende von Kindern bei einer Massenschießerei umzubringen, besteht für sie kein grundsätzlicher Unterschied. Dass sich diese Haltung in der Regel nicht mit unseren Empfindungen deckt, nehmen sie in Kauf. Die Weltflucht fordert eben ihren Preis. Zumal der Lohn dafür die Eindeutigkeit ist, mit der Gut und Böse geschieden werden können.

In welchem Ausmaß freilich der Purismus plötzlich um sich greift und von Bundespräsident Rau emphatisch beschworen wird, ist erstaunlich. Die Lehren aus der selbstverständlichen Alltagserfahrung, dass unsere Taten nicht nur in sich richtig oder falsch sind, sondern Konsequenzen haben, die mitunter eine richtige Tat falsch und eine falsche Tat richtig sein lassen, diese Lehren geraten heute oft schon in den Verdacht der Amoralität. Das erste Opfer der Gentechnik scheint bei der deutschen Debatte ein Stück gesunder Menschenverstand zu sein.

Gott hat dem Menschen Werte gesetzt (vielleicht war es auch eine andere gütige Macht). Er hat ihm aber auch Verstand gegeben, um diesen Werten nicht blindlings zu folgen sondern im Lichte der vorhersehbaren Konsequenzen. Verantwortungsvolles Handeln bedeutet seit jeher eine Güterabwägung. Diese Tatsache bleibt gültig, auch wenn ihre Befolgung durch den wissenschaftlichen Fortschritt schwieriger geworden ist.

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