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Die Poetin Debora Vogel, geboren 1900 Bursztyn im ehemaligen Österreich-Ungarn. 1942 wurde sie im Ghetto Lemberg erschossen.

© Arco Verlag

„Geometrie des Verzichts“ von Debora Vogel: Die synästhetische Poetin

Für Debora Vogel waren Farben und Formen die Seele und Sprache der Dinge. Die polnische Jüdin wurde während der NS-Zeit ermordet. Eine Gesamtausgabe entreißt ihr Werk endlich dem Vergessen.

"Spielen Sie blauer!“, herrschte einst der Synästhetiker Franz Liszt beim Dirigieren das verblüffte, ratlose Orchester an. „Omega – ihrer augen veilchenblauer strahl“ heißt es in Arthur Rimbauds Gedicht „Voyelles“/„Vokale“, übersetzt von Stefan George, über den Buchstaben O. „Vokale“ von 1883 gilt als Schlüsseltext der Synästhesie, der neuronalen Verschmelzung verschiedener Sinneseindrücke. Dieses angeborene Phänomen verschiedenster Ausprägungen findet sich häufig bei Künstlern. Auch bei der Lemberger Dichterin und Essayistin Debora Vogel bilden die erfrischenden Neuronengewitter den geheimen, nicht entschlüsselbaren Kern ihres umfangreichen Werks und machen dessen eigentlichen Reiz aus – so wie jede Spielart der Synästhesie individuell und in sich logisch, aber nicht „erklärbar“ ist. „Violett ist schwül wie ein vertanes Leben“, beginnt Vogels Gedicht „Stadtgroteske Berlin“: „In violett orangerot zitronengelb / sind verzwickte Schicksale geschrieben: Ufa-Film / Hotel Stadt Lemberg“.

Trotz dieses bunten Beispiels ihrer „audition colorée“, des farbigen Hörens, galt Debora Vogels dezidierte, hartnäckige Sympathie den als langweilig verrufenen Grautönen – lange vor „Fifty Shades of Grey“. Vogel assoziiert Grau in ihren Gedichtbänden „Tagfiguren“ und „Schneiderpuppen“ mit der Klarheit geometrischer Formen. In dem Buch „Akazien blühen“, das ihre kubistisch inspirierten Prosamontagen versammelt, heißt es: „Der Monat Oktober besteht ganz aus Kupfer und reinem Grau und scheint sich besonders für Traktate vom Leben zu eignen. Er verführt und lockt in die graue Gegend der Begriffe, vielleicht auch, weil sie so stark seinen grauen, kontemplativen weiten Straßenzügen ähnelt.“

Kühler Pathos zwischen Konstruktivismus und Neuer Sachlichkeit

Debora Vogel war bislang vor allem als Brieffreundin von Bruno Schulz bekannt. Ihrem Freund und Förderer versicherte sie in einem Brief vom Dezember 1938, der Kontakt zu ihm sei „in seiner Färbung einzigartig“. Ganze fünf Briefe des von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Freundespaares sind erhalten geblieben. Sie hatten sich 1930 in Zakopane kennengelernt, jenem südpolnischen Dorado der Künstler wie des Wintersports. Im galizischen Bursztyn („Bernstein“), das heute zur Westukraine gehört, wurde Vogel 1900 als Tochter einer Gelehrtenfamilie geboren und wuchs in einem jiddisch-deutsch-polnischen Sprachumfeld auf. 1926 promovierte sie an der Krakauer Jagiellonen-Universität über Hegels Philosophie. Später unterrichtete sie Psychologie und Literatur am Hebräischen Lehrerseminar in Lemberg, arbeitete in einem Kinderheim und als Journalistin – unter prekären Bedingungen, wie sie beklagte: „In einigen Zeitungen hat sich zum Beispiel eingebürgert, dass Männer, sogar die geistlosen und graphomanen, honoriert, die Frauen dagegen mit Honneurs anerkannt werden.“

Debora Vogel engagierte sich besonders für den jiddischen Modernismus in Galizien. Sie nahm auch an den Diskussionen der sogenannten Insichisten aus New York teil, die als jiddischsprachige Avantgarde der Zwischenkriegszeit gelten. In diesem Bestreben brachte sie sich selbst das Jiddische bei und übersetzte ihre polnischen Texte in diese wesentlich altmodischere Sprache. Sie reiste quer durch Europa und beschäftigte sich intensiv mit der Malerei des Konstruktivismus und der Neuen Sachlichkeit. Das kühle Pathos dieser Stilrichtung spiegelt ein Gedicht wie „Herbstmotiv I“ wider: „Bis man sich ansteckt mit der Stimmung der melancholischen Gesellschaft im messinggelben Herbstsalon: / mit der Müdigkeit verspielter Dinge. / Blätter fallen. Müde Blätter. / Rote Blätter. Gelbe Blätter.“ Typisch für Synästhetiker ist auch der geometrisch strukturierte Wochen- und Monatsrhythmus. In der Ballade „In Fenstern“ heißt es: „Die Welt von vielen Wochen ist ein Wandquadrat / das sieben Mal in der Woche aufgeht / mit rechteckigen Sonnen zitronengelber, lehmbrauner, kreideweißer Gesichter.“ Es erstaunt nicht, dass solcherart Poesie bei der zeitgenössischen Kritik nicht immer auf Verständnis stieß.

1942 wurden sie und ihre Familie im Lemberger Ghetto erschossen

In einem Brief an Bruno Schulz formulierte sie 1939 ihr faszinierendes poetologisches Programm: „In diesem Fall bekenne ich, dass ich zum Abstrakten tendiere; interessante Gedankenzusammenstellungen haben für mich die Buntheit von Dichtung und Form, und sie lösen einen Spannungsschauder aus, der Spannungen ähnlich ist, die durch irrationale (alogische) Zusammenstellungen der Bestandteile entstehen. Warum sollte man also nicht diskutieren? Warum nicht auch nach diesem Mittel greifen, um in sich die zuweilen verlöschende Flamme der Farbigkeit wieder zu entfachen?“ Drei Jahre blieben Vogel, ihr Talent zu entfalten. Im August 1942 wurde sie mit ihrem Mann, einem Architekten, ihrer Mutter und ihrem fünfjährigen Sohn im Lemberger Ghetto von den deutschen Besatzern erschossen.

Dass Debora Vogels vielschichtiges Werk samt dessen kontroverser Rezeption nun dem Vergessen entrissen wird, ist das Verdienst von Anna Maja Misiak. Die in Bern lebende Germanistin und Kunsthistorikerin besorgte in jahrelanger Kärrnerarbeit eine Gesamtausgabe mit dem schönen Titel „Die Geometrie des Verzichts“. Der Wuppertaler Arco Verlag wurde für diese editorische Großtat 2016 mit dem Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage geehrt. Gewürdigt werde sowohl der Verlag für diesen Fund, heißt es in der Jury-Begründung, als auch „eine kompromisslose Avantgardistin, die mit Lyrik und Essays eine bedeutende Rolle in den Debatten der Zwischenkriegszeit einnahm“. Auf jeder Seite dieses inspirierenden Lesebuchs sieht man sich mit Formen und Farben konfrontiert, für Debora Vogel die „Seele und Sprache der Dinge“.

Debora Vogel: Die Geometrie des Verzichts. Gedichte, Essays, Briefe. Übersetzt und herausgegeben von Anna Maja Misiak. Arco Verlag, Wuppertal 2016. 672 S., 32 €.

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