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Lieber von Göttern zerstört als vom Wirrwarr zerbrochen. Gerhard Falkner in Berlin.

© Alexander Paul Englert

Gerhard Falkners "Ignatien": Circe im Darkroom

Der Dichter Gerhard Falkner schreibt zwanzig Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs. Mit Ironie und Wut widmen sich seine "Ignatien" dem Auslaufmodell Mensch.

Von Gregor Dotzauer

Unter den Ohrwürmern der modernen Dichtung ist Rainer Maria Rilkes erste „Duineser Elegie“ besonders hartnäckig. Auch wer kein Wort versteht, was es heißt, „nicht sehr verlässlich zu Hause“ zu sein „in der gedeuteten Welt“, dem fliegen bald Engel durchs Hirn, und hinter den Schläfen pocht das Schöne als des Schrecklichen Anfang. Eine Coverversion dieser fast zu Tode zitierten Verse ist weniger ein Sakrileg als finsterer Wahnsinn: Man kommt über die Erhabenheit des Urtexts nicht hinaus. So, wie es Gerhard Falkner in seinen „Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs“ anstellt, klingt es sogar gefährlich nach Germanistenfasching. Wenn er sein seit jeher schwer fassbares lyrisches Ich am Schlafittchen packt und fragt: „Wer, wenn nicht ich, hörte mich denn / aus der Enge der Ordnungen“, dann darf man auch keine besonders erhellende Antwort erwarten: „Einer in Bergblusen vielleicht / ein Bergblusenwunder“.

Blusen? Blumen? Busen? Falkner scheint keine Albernheit zu scheuen und bewohnt doch das entgegen gesetzte Ende eines Universums, in dem Robert Gernhardt einst Charles Baudelaire die „Fleurs du mal“ aus der Hand riss und ihnen die „Blusen des Böhmen“ ablauschte. Vielleicht ist ihm ein falscher Buchstabe in die Tastatur gerutscht, ein semantischer Störfaktor, der ihn daran hindert, sich in seinen eigenen Hervorbringungen zu entziffern, vielleicht ist ihm die Urteilsfähigkeit auch grundsätzlich abhanden gekommen. „Alles besitzt uneingeschränkte Relevanz“, behauptet er. „Der Unterschied / zwischen Curt Goetz und Rainald Goetz / zwischen Ann Cotten und Jerry Cotton / ist, genetisch gesehen, irrelevant. / Alles die gleiche Homöobox /das gleiche, trügerische Schillern von Aminosäuren / genetische Strickleitern, codierte Erblast.“

Kulturell hält Falkner natürlich am Gegenteil fest. Es gibt kaum einen grimmigeren und ironischeren Neurastheniker, der hin und her gerissen zwischen Stoizismus und Hypersensibilität über „schlecht gemachtes Unschönes mit einem / Schuss medialen Jux“ klagt und dem Kommenden argwöhnischer begegnet: „Hat das Zyklopenauge der Webcams / den Gang all dieser Dinge festgehalten / die immer kürzere Zeit brauchen / um im Sand zu verlaufen? / Spurlos übergreifend ins Nebensächliche. / So klein inzwischen / wie der Abstand zwischen Nepal und Neapel. / Legasthenisch winzig. Wie / die Lücke zwischen dem Jetzt und der Bahnsteigkante. / Erklärte Nacht. Gewaltig endet so das / Auslaufmodell Mensch.“

Die zwanzig „Ignatien“, die sein gleichnamiger Band versammelt, sind gnatzige Rufe in diese bevorstehende Nacht, Trauergesänge auf einen unhaltbar gewordenen Anthropozentrismus, der dennoch nicht von sich absehen will: „Immer wieder sind wir die Sache / auf die wir hereinfallen / das alte Subjekt, die Nummer mit dem / Einen, Unverwechselbaren. Immer / haben wir die falschen Papiere. / Das Bedeutende verfehlt seine Bedeutung / das Zeichen verfehlt das Bezeichnete / hinter den stummen Worten / leuchten die stillen Weiten“. Es sind aber auch Gedichte, die die Hinterlassenschaften des hochstaplerischen Ichs nicht für immer ins Museum verbannen wollen. Nur was ist noch zu retten?

Im Grunde bleibt der „Herzversager“ Falkner in den „Ignatien“ ein verhinderter Romantiker, ein Dichter, dem die Seele traumverloren schwillt, bis ihr der Theoretiker die Sehnsuchtsluft abklemmt. Es sind Versuche einer ideengeschichtlichen Selbstergreifung im Wissen, dass es keine Metasprache gibt, in der sich die Koordinaten des aktuellen Standorts anzeigen ließen, weder eine gültige der Poesie noch eine zuverlässige der Wissenschaft. Es gibt höchstens Sprechversuche gen- und memprogrammierter Wesen, bei denen sich Überschwang und Ernüchterung fortlaufend in die Quere kommen.

Falkners Literatur fungiert seit Jahren als eine Art Sekundärliteratur, die gegen ihr ewiges Zuspät anrennt, als eine Poesie nach der Poesie, die es nicht lassen kann, in die Stollen der Tradition hinabzusteigen, um dort von jüngeren Sprachschichten so gründlich verschüttet zu werden, dass sie sich kaum noch ans Licht kämpfen kann. „Hölderlin Reparatur“ hieß der Band, mit dem er 2008 einem hohen Ton zu neuem Recht verhelfen wollte. In diesem Sinne findet hier eine Rilke- oder eine Novalis-Reparatur statt, die das „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ mit zeitgenössischem Vokabular anreichert. „Wenn nicht mehr Dark Pools, Dark Screens, Dark Rooms / uns betören, wenn die Circe selbst / zum Kraut wird gegen ihren Zauber“, steht da nun, getragen von Nietzsches Definition der Wahrheit als einem Heer beweglicher Metaphern und der Überzeugung: „Lieber von Göttern zerstört / als vom Wirrwarr zerbrochen“.

Genau dieser Wunsch verrät durch alle von Falkner vertrauten Textstrategien der Überschreibung, der Sprachebenenkollision und der Lautverdrehung aber auch das, was im postmodernen Regelbetrieb nicht aufgeht und sich nur sehr viel widerborstiger und klassizismusfeindlicher äußert als in den gleichfalls naturwissenschaftsbewegten Gedichten von Durs Grünbein oder den Hölderlin-Verbeugungen von Uwe Kolbe. Wenn die „Ignatien“ dabei mehr denn je herauszufinden versuchen, was genuin dichterisches Denken ist, sind sie doch da am stärksten, wo sie ihr theoriegesättigtes Grundrauschen hinter sich lassen und ihrem ureigenen poetischen Affen Zucker geben. In einem analytisch unauflösbaren Metaphernsturz, dessen Verknüpfungsdichte keinem zweiten deutschen Dichter so gelingt, taumelt er durch diese ramponierten Elegien: „Im Garten bei Helga spielt Gott / den verliebten Mandanten / und er geht als goldener Regen auf sie / nieder, durchwühlt ihr Haar / kleckert das Manna ins köstliche Nest / ihrer Hochsteckfrisur. // Unten aber, im entlaubten Meere / wirbeln die leeren Spindeln der Muscheln / es donnern die frommen Ströme / gegen die Stirnen erfrorener Störche."

Falkner, hat Ann Cotten geschrieben, „neigt, wie viele perzeptive Menschen, dazu, alles zu jeder Zeit selber kapieren zu wollen. Hier wird das Ideal der Bewusstheit, das uns seit der Aufklärung vorschwebt, gefährlich. Denn es ist einfach megaloman.“ Je mehr er sich vergisst, desto eher wird er deshalb seiner selbst inne, an den Grenzen einer Sprache, von der er nicht müde zu erklären wird, dass er sehr viel weniger sie spricht als sie ihn. Je dümmer er sich argumentativ stellt, könnte man auch sagen, desto klüger wird er intuitiv – in einer Mischung aus Erregtheit und Selbstberuhigung, die schon im Namen dieser Gedichte angelegt ist. Die Ignatie, auch unter dem lateinischen Namen Strychnos Ignatii bekannt, ist nämlich ein Brechnussgewächs mit bitteren Beerenfrüchten, deren getrockneter, geschälter und pulverisierter Samen in niedriger Potenz der homöopathischen Behandlung von nervösen Stimmungsschwankungen, Hysterie, Verletzbarkeit und Liebeskummer dient. In hoher Dosierung und in das Alkaloid Strychnin verwandelt, entfaltet er toxische Wirkung bis hin zur Atemlähmung. Auch in dichterischer Form ist sie Gift wie Gegengift. Sie kann einem Sinn und Verstand gleichermaßen rauben wie zurückerstatten.

Falkners Elegien kommen in einer von Ann Cotten vorzüglich ins Englische übertragenen zweisprachigen Ausgabe – und mit computergenerierten Filmstills des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer, deren düster-kalter Posthumanismus – keine einzige seiner Gestalten trägt ein Gesicht – den „Ignatien“ eine weitere Ebene erschließt. Aber was ist hier schon archaische condition humaine und was futuristische Vision? Im Anhang zitiert Falkner surreal klingende, aber authentische Aufzeichnungen des Ur-Homöopathen Samuel Hahnemann. „Früh beim Erwachen Kopfschmerz, als wenn das Gehirn zertrümmert und zermalmt wäre“, heißt es da. Falkners Replik endet mit den Worten: „Berchtesgaden. Asthma. / Nachtragend. / Doppelter Zeilenabstand. Kummermittel. / Müllberge multipler Melancholie. / Arkadien.“

Gerhard Falkner: Ignatien. Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ins Englische übertragen von Ann Cotten. Mit Filmstills von Yves Netzhammer. Starfruit Publications, Nürnberg 2014. 130 Seiten, 19,90 €.

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