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HÖREN: Geschenkte Zeit

Zweieinhalb Stunden dauert es, einen Zeitungstext wie diesen zu schreiben, nur zwei Minuten, ihn durchzulesen. Drei Stunden lang war der Weihnachtsbraten im Ofen, in einer halben Stunde hat die Festgesellschaft ihn weggeschmaust.

Zweieinhalb Stunden dauert es, einen Zeitungstext wie diesen zu schreiben, nur zwei Minuten, ihn durchzulesen. Drei Stunden lang war der Weihnachtsbraten im Ofen, in einer halben Stunde hat die Festgesellschaft ihn weggeschmaust. Das ist ganz normal, davon ist niemand überrascht. Aber noch längere Längen, noch extremere Verhältnisse? 18 Monate zum Beispiel brauchte der Dichter Ezra Pound in den 1910er Jahren, bis ihm sein Zweizeiler „In a Station of the Metro“ in den Sinn kam: „The apparition of these faces in the crowd; / Petals on a wet, black bough.“ Ein Gedicht aus nur 14 Wörtern, das man in zehn Sekunden gelesen hat.

Noch viel mehr Zeit will vielleicht nur die Musik: Allein vier oder fünf Jahre braucht es, je nach Talent, bis man genügend technisches und musikalisches Können erworben hat, um so etwas wie eine Beethoven-Sonate auf dem Klavier spielen zu können. Dazu kommen noch einmal mehrere Wochen und Monate – manche sagen: ein ganzes Leben –, um eine konkrete Sonate einzustudieren, mit ihren Tönen, Trillern, Läufen, Timbres, den Akkordvorhängen oder Abschlussfugen. Und das alles für eine halbe Stunde Musik. Das ist eine Stange Zeit, um es mal etwas salopp zu formulieren, und es ist nur verständlich, dass man sich das Ding lieber ruckzuck kaufen geht und dann zackzack ins Home Entertainment einstellt, um es irgendwann beim Abspülen zu hören.

In diesem Moment hat man allerdings zippzapp nicht mehr viel davon. Denn das große Geheimnis von Kunst ist natürlich, dass sie zwar Zeit braucht, aber auch Zeit schenkt, dass sie große, widersprüchliche Epochen in winzige Dauern hineinkomprimieren kann (wie bei Pound) und man umgekehrt die eigene, anstrengende Gegenwart in kunstvollen Miniaturen wiederfindet (wie bei Beethoven). Allerdings braucht es zum Annehmen dieser Gabe etwas Geschick. Mit anderen Worten: Zeit.

Geschenkt bekommt nämlich nur der etwas, der sich auf die große, gewissermaßen zernichtende Gefahr einlässt, erst einmal selbst in Vorleistung zu treten und seine eigene Zeit herzugeben. Ah, eine Viertelstunde meines Tages! Ein halbes Jahr des eigenen Lebens! Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, wie sehr in exakt derselben Frist von außen gezerrt und gezogen wird, wie dringend man den Status bei Facebook aktualisieren muss, wie deutlich die eigene Konstitution bereits auf die Kurzatmigkeit des Informations- und Kommunikationszeitalters eingestellt ist.

Außerdem besteht ja noch das Risiko, dass das, was man gerade hört oder nach langem Lernen spielen kann, sowieso nicht das Gelbe vom Ei ist, schließlich ist die Mehrzahl der Konzerte uninspirierend, man selbst ist nicht immer gut am Klavier, und sogar Aufnahmen können unerquicklich sein. Wozu also der Aufwand? Wieso das Gewese? Es ist sehr einfach: Weil echte Meisterschaft Zeit braucht; sie entsteht nicht aus einzelnen Augenblicken, sondern immer erst aus vielen mühsamen Wiederholungen. Weil die wenigen Momente, in denen gute Musik auf eine aufnahmefähige Seele trifft, unvergleichlich schön sind und solche Momente nirgends sonst als in Live-Darbietungen zu haben sind. Und weil das Leben die Fülle ist, nicht die Zeit, wie Arthur Schnitzler einmal geschrieben hat.

Eine Minute vierzig: Diese Kolumne ist gleich am Ende. Ende Dezember 2013: Die Dauer ihres wöchentlichen Erscheinens auch. Ich bedanke mich bei allen Leserinnen und Lesern, den mitschwingenden wie den kritischen, den musikalisch versierten wie den musikalisch reservierten. Ihnen allen wünsche ich heitere Sinne, fröhliche Ohren und ein sicheres Verhältnis zur eigenen Zeit. Und allen Musikantinnen und Musikanten da draußen wünsche ich, dass sie mit dem Zeit-Einfordern und Zeit-Schenken in Zukunft besonders virtuos umgehen.

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