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Kultur: Geschichte der Russen und Juden: Ein Pfadfinder für so genannte Toleranz - und die Todesstrafe

Hätte irgendein unbekannter Autor Derartiges verzapft, der Leser würde das Buch schon nach wenigen Seiten mit bedauerndem Kopfschütteln im Müll entsorgen. Der Grund: Es enthält historische Spekulationen, die sich auf bedenklich zusammengeschusterten Kausalketten gründen.

Hätte irgendein unbekannter Autor Derartiges verzapft, der Leser würde das Buch schon nach wenigen Seiten mit bedauerndem Kopfschütteln im Müll entsorgen. Der Grund: Es enthält historische Spekulationen, die sich auf bedenklich zusammengeschusterten Kausalketten gründen. Das krasseste Beispiel: Pjotr Stolypin, von 1907 bis 1911 russischer Ministerpräsident, wird zum Reformator hochgejubelt. Wider besseres Wissen. Immerhin hat Stolypin eine Wahlrechtsreform zu verantworten, mit der erste Ansätze von Liberalisierung wieder zurückgenommen wurden, ebenso Pogrome gegen nationale und religiöse Minderheiten. Das ergab Druck, und der erzeugte nach Meinung vieler Historiker jenen Gegendruck, welcher sich in den Revolutionen von 1917 entlud.

Der Buchschreiber sieht es anders: "Für den Tod Stolypins, den im September 1911 der Jude Bogrow erschoss, bezahlte ganz Russland." Und weiter: Wäre Stolypin am Leben geblieben, "wären weder der Krieg (der Erste Weltkrieg - E.W.) noch die Revolution für uns so schmachvoll ausgegangen. Wenn wir denn mit Stolypin als Regierungschef überhaupt in den Krieg eingetreten wären. Den Juden half der Mord auch nicht. Er rettete die Kiewer Juden nicht vor Repressalien."

Was anschließend in drei rückblickenden Kausalschritten bewiesen wird: "Schritt 1: Stolypin wird umgebracht, Russland kommt durch den talentlos geführten Krieg unter den Stiefel der Bolschewiki. Schritt 2: Die Bolschewiki erweisen sich als noch talentloser als die Autokratie der Zaren. Im Ergebnis dieser Politik bekamen die Deutschen ganze 25 Jahre später halb Russland und darunter auch Kiew. Schritt 3: Die Deutschen marschieren in Kiew ein und vernichten die dortigen Juden."

Fakten, Irritationen, Vorurteile

So jedenfalls sieht es der Mann, den sowjetische Dissidenten in den Siebzigern zum "Gewissen der Nation" erklärten - Alexander Solschenizyn, der für seine regimekritischen Werke mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde und seit seiner Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil 1998 zunehmend Befremdliches von sich gibt. Vor der Pressefreiheit, erklärte Solschenizyn auf dem Höhepunkt des Skandals um die feindliche Übernahme des unabhängigen TV-Senders NTW im April, rangieren die "Interessen des Staates". Und auf dem Höhepunkt der Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe machte sich ausgerechnet Solschenizyn zum Wortführer derjenigen, die Putin zur Aufhebung des noch von Jelzin verhängten Moratoriums drängen. Obwohl der Verzicht auf Guillotine und Genickschuss 1996 Vorbedingung für die Aufnahme Russlands in den Europarat war.

Als vorläufiger Höhepunkt von Solschenizyns Metamorphose vom Paulus zum Saulus gilt kritischen Intellektuellen nun das das jüngste, in Russland erschienene Buch ihres einstigen Idols, jenes mit der Stolypin-Passage: "Zweihundert Jahre zusammen - die Geschichte der Russen und Juden von 1795 - 1995" . Zweihundert Jahre nebeneinander wäre passender. Auf über tausend Seiten hat Solschenizyn historische Fakten, Halbwahrheiten, Irritationen und Vorurteile zusammengetragen, wie sie das Zusammenleben von Russen und Juden seit jeher belasteten.

Per se ein durchaus löbliches Unterfangen, zumal eine solche Zusammenschau längst überfällig war. Erklärtermaßen hat der Autor auch die besten Absichten. Schon im ersten Kapitel kündigt er an, "Pfadfinder für das normale Zusammenleben künftiger Generationen von Russen und Juden" sein zu wollen. Beide Seiten müssten sich kritisch mit ihrer Vergangenheit und mit sich selbst auseinander setzen. Und endlich aufhören, sich selbst alles und dem anderen nichts zu verzeihen. Erforderlich sei Toleranz, die vielen russischen Publizisten abgehe. Andererseits gäbe es auch viele - historisch verbürgte und dokumentierte - "hässliche und intolerante Auslassungen der Juden über die Russen" und deren Nationalcharakter.

Eine durchaus richtige Feststellung, die noch dazu mutig ist: Offiziell gilt in Russland inzwischen die schweigende Übereinkunft, über Juden öffentlich nur Gutes oder gar nichts zu sagen. Wobei prominente Mitglieder des Russischen Jüdischen Kongresses in derartigen Konventionen eine besonders subtile Form des Antisemitismus ausgemacht haben. Kollektive Verklärung sei ebenso falsch wie kollektive Diskriminierung, fand Moskaus Oberrabbiner Adolf Schajewitsch. Im Klartext: Normaler Umgang der Russen mit nichtrussischen Minderheiten bedeutet, dass aus "unserem jüdischen Mitbürger Mark Isaakowitsch" ein schlichter "Mitbürger Mark Isaakowitsch" wird.

Doch nicht nur davon ist Solschenizyn trotz guter Vorsätze Lichtjahre entfernt. Zwar hat er sein Werk ausdrücklich als wissenschaftlich-historische Arbeit deklariert. Doch das umfängliche Register von benutzter Sekundärliteratur kann nicht verhindern, dass der Polemiker Solschenizyn den Chronisten Solschenizyn schon nach wenigen Seiten zum Schweigen bringt. Spekulationen im irrationalen Konjunktiv sind da noch relativ harmlos angesichts der Verantwortung für die fatalen Wendungen russischer Geschichte, die der Autor mit ebenso fragwürdigen Kausalketten wie im Stolypin-Kapital den hiesigen Juden aufbürdet.

Die Hefe der Revolution

Durch die liberale Politik von Zar Alexander II., schreibt Solschenizyn, hätten die Juden sich emanzipiert und der Marktwirtschaft zum Durchbruch verholfen. Als dynamischster Teil der Bevölkerung seien sie damit "zur Hefe der Revolution" geworden. In eben der aber sieht die Mehrheit der Russen nicht nur die Quelle allen Elends während der über siebzigjährigen Ägide der Sowjetmacht, sondern auch die Ursache der nach wie vor andauernden Misere. Solschenizyn hätte wissen müssen, was er mit derartigen Kombinationen angesichts der nach wie vor antisemitischen Grundhaltung der Massen lostritt. Die Tschetschenen hätten den Juden nur kurzzeitig eine Atempause verschafft, spottete deren Moskauer Vertretung kurz vor Kriegsbeginn. Und ein Interview für die Wochenzeitung "Moscow News", deren Chefredakteur Solschenizyn mit Suggestiv-Fragen goldene Brücken für den halbwegs geordneten Rückzug baut, macht alles noch schlimmer. Wieder einmal ist eine längst überfällige historische Auseinandersetzung für Jahre blockiert, weil ein namhafter Autor falsche Zeichen gesetzt hat.

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