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Die Ruhe nach dem Massaker. Ein Mädchen nach dem Völkermord in Ruanda 1994. Foto: Jan Grarup/NOOR/laif

© Jan Grarup/NOOR/laif

Gewalt: In der Gemetzelzone

Zwischen Kooperation und Konfrontation: Neue Bücher untersuchen die Dynamik von Gewalt.

Kriege und Völkermord, Diktaturen und gewaltsame Aufstände, eine Inflation der Massaker und Märtyrer, Prügelattacken im Nahverkehr und als Freizeitvergnügen Killerspiele ohne Ende: In den letzten Jahren und Jahrzehnten scheint die Menschheit weiter denn je entfernt von den Idealen der Pazifizierung und des „Ewigen Friedens“, die 1989 kurzfristig aus den Himmeln der Philosophie auf die irdische Bühne herabgestiegen schienen.

Aber nimmt die Gewalt tatsächlich zu? Oder nur deren Darbietung in den Medien? Ist das „Böse“ ein Werkfehler der menschlichen Natur oder ein späterer Schadenfall bei laufendem Betrieb? Ist die Neigung zur Gewalt therapierbar? Ewige und brandaktuelle Fragen, auf die derzeit viele Bücher Antworten suchen. Allen voran das soziologische Großwerk von Randall Collins, „Dynamik der Gewalt“, das Beste, was man zum Thema lesen kann. Collins interessieren weniger die Motive der Gewalt; sein Blick richtet sich auf die Dynamik der Situation selbst: nicht warum, sondern wie Gewalt entsteht.

Gewalt sei „keine leichte Übung“ – so die erste überraschende Feststellung. Die meisten Menschen seien „nicht gut“ in Gewalt. Die Darstellungen des Films sind eine Lüge, weil sie über diese Inkompetenz hinwegtäuschen: Die Kontrahenten agieren da meist tapfer, schlagkräftig und beinahe ebenbürtig. Reale Gefechtszonen bieten viel weniger fürs Auge: Gerade die Abwesenheit von Bewegung sei „das sicherste Zeichen dafür, dass man sich in der Gefahrenzone befindet“. Auch „heldenhafte“ Kämpfe, von denen das Schaugewerbe vom Rummelboxer bis zum Blockbuster lebt, kommen in der Realität kaum vor. Effektive Gewalt vollzieht sich in der Regel schnell und hinterhältig, aus einer Position einseitiger Überlegenheit. Scharfschützen oder Killer arbeiten mit größtmöglicher Situationskontrolle und „unfairen“ Überrumpelungseffekten.

Collins wertet Interviews mit Soldaten, Polizisten, Türstehern und Kriminellen aus, er beobachtet die Mikroprozesse der Gewalttätigkeit in Filmen von Überwachungskameras und analysiert quantitative Daten. Wie viele Schüsse haben Soldaten im Kampf tatsächlich abgegeben? Daraus ergeben sich verblüffende Einsichten, etwa dass viele Soldaten aufgrund der Anspannung überhaupt nicht schießen, andere unkontrolliert in die Gegend ballern – ein erheblicher Teil der Verluste resultiert nicht zufällig aus friendly fire.

Nahkämpfe sind meist erstaunlich ineffizient. Artilleristen und Bomberpiloten dagegen haben meist wenig Probleme, schwere Zerstörungen anzurichten. Die Rhetorik der Gewalt gedeiht am besten an der Heimatfront. Die größte Wut offenbarte in einem von Collins herangezogenen Buch mit 850 Fotografien aus dem Vietnamkrieg ein Friedensdemonstrant in den USA. Der Ausdruck von Zorn ereigne sich in kontrollierten Situationen, wenn der Gegner bereits bezwungen sei oder in symbolischen Konfrontationen.

Menschen seien eigentlich kooperative Wesen: evolutionär darauf eingestellt, mikrointeraktive Signale zu verstehen und sich darauf „einzuschwingen“. Zwei Menschen, die sich begegnen, versuchen in einen gemeinsamen Rhythmus zu kommen und auch im Gespräch den Takt einer gemeinsamen Intonation zu finden. Nichts aber widerspricht dieser Veranlagung so sehr wie Gewaltausübung.

Aber wie erklärt der Interaktionssoziologe dann die Exzesse? Sein zentraler Begriff lautet „Vorwärtspanik“. Dabei wird die Konfrontationsanspannung in die Energie des Angriffs umgewandelt. Stellt sich schnell eine deutliche Überlegenheit ein, werden am ehesten Massaker begangen. Soldaten treten in den emotionalen Tunnel der Gewalt ein – und diese oft rauschhafte „moralische Auszeit“ kann lang werden, wie beim bestialischen Wüten der japanischen Armee unter der chinesischen Bevölkerung in Nanking 1937.

Die Anspannung der Kämpfe war hier jäh der totalen Überlegenheit gewichen, und dass die verstörten Chinesen keine Gegenwehr zeigten, stimulierte die Täter zusätzlich. Gewalttäter „mästen“ sich an der Angst ihrer Opfer. Bei Demonstrationen zeigt Gewalt meist ebenfalls das Gesicht der Vorwärtspanik: Die Fronten brechen auf und Gruppen (von Polizisten oder Demonstranten) gelingt es, eines schwachen, weil vereinzelten Opfers der jeweils anderen Seite habhaft zu werden.

Collins analysiert die Dynamik in vielfältigen Zusammenhängen, unter anderem bei Ehestreit, Kindesmisshandlung, Schüler-Mobbing und Prügeleien in den Zechzonen. Er beschäftigt sich mit der ritualisierten Gewalt im Sport, mit der Rhetorik der Brände und des splitternden Glases bei Unruhen und der strategischen Funktion von Plünderungen: Sie halten einen Mob aktiv. Randalierer müssen etwas zu tun bekommen, sonst verlaufen die Unruhen schnell im Sand.

So war es womöglich auch bei den jüngsten Krawallen in England. Aber wenn die Kapuzen-Kids mit Kartons voller Unterhaltungselektronik aus geplünderten Geschäften entweichen, findet sich bald jemand, der gerade darin den authentischen Protest der sozial Deklassierten sieht. Es geht nicht darum, ob das im Einzelfall richtig oder falsch ist. Kennzeichnend für den medialen Diskurs ist, dass Gewalt „verstanden“ und zum „Zeichen“ sublimiert werden muss. Im Gefolge der Täter treten sogleich die Deuter auf den Plan.

Ein Philosoph wie Terry Eagleton würde deshalb solche Ausschreitungen auch nicht für „böse“ halten. In seinem Essay „Das Böse“ definiert er dieses gerade als das Sinnlose: „Das Böse ist absolut zwecklos. Etwas so Triviales wie ein Zweck würde seine tödliche Reinheit beflecken.“ Von hier aus entwickelt er auch den vermeintlichen Unterschied zwischen den Verbrechen Hitlers und denen Stalins und Maos, bei denen zwar die Zahl der Gemordeten erheblich höher liege, denen Eagleton aber immer noch eine (wie auch immer pervertierte) instrumentelle Rationalität zugesteht.

Man findet in seinem Buch viele Erklärungen, die mal nach dem Marquis de Sade klingen („das Böse ist reine Perversion“), mal eher nach Mephisto (das Böse als eine Art „kosmischer Widerborstigkeit“), mal nach Freuds Todestrieb (das Böse als „Verlangen nach dem Nichts“). Eagletons Ausführungen sind eher geistreich und pointiert als analytisch: „Das Böse ist langweilig, weil es ohne Leben ist.“ Das erinnert zwar an Hegels Diktum, wonach das Böse „kahl und gehaltlos“ sei, kann aber trotzdem nicht überzeugen. Schließlich findet nicht nur Eagleton selbst das Phänomen interessant genug, um ihm ein Buch zu widmen. Auch im akademischen Raum hat das Thema Konjunktur, weil es den würzigen Hauch des wahren Lebens in die Seminarluft mischt.

In der Debatte über das Böse steht auf der einen Seite der anthropologische Pessimismus, auf der anderen der sozialtherapeutische Glaube an die prinzipiell gutartige Natur des Menschen – ein Erbe der Aufklärung, die von der Statuierung der Erbsünde und des Satanischen nichts mehr wissen will. Bis heute steht vor allem die politische Linke in dieser Tradition und muss bei jeder Gewalttat Gründe finden, die das Vertrauen in die Verlässlichkeit (oder Verständlichkeit) des Mitmenschen wiederherstellen.

Eugen Sorg dagegen, pessimistisch bis an die Grenze des Zynismus, misstraut der menschlichen Natur. Seine Streitschrift „Die Lust am Bösen“ ist eine Abrechnung mit dem therapeutischen Diskurs. Als Kriegsreporter ist Sorg in den Gemetzelzonen verschiedener Kontinente herumgekommen und mit der „schwarzen Empirie epidemischer Grausamkeit“ vertraut. Was ihm etwa Serben oder Bosnier während des postjugoslawischen Bürgerkriegs erzählten, hörte sich an wie Splatterfantasien, deckte sich aber nur allzu oft mit der Realität.

Warum tun die das? Weil sie die Gelegenheit dazu und weil sie Spaß daran haben. Einmal fragte Sorg einen liberianischen Gefängnisaufseher, warum er die Gefangenen schlage. „Warum, warum. Weil es Gefangene sind“, lautete die lapidare Antwort. Man muss nicht verzweifelt oder unterdrückt sein, um im Machtrausch zu vergewaltigen, zu foltern und zu töten. Beinahe höhnisch widerspricht Sorg dem Dauer-Psychologismus, der Gewalttaten durch traumatische Kindheiten und sozioökonomische Umstände erklären und oft auch schon halb entschuldigen möchte. Das Böse sei keine Psychopathologie, sondern eine Möglichkeit.

Während hierzulande noch über die Singularität des Holocaust gestritten wurde, gingen in Ruanda allmorgendlich die Macheten-Mörder auf Tour. In drei Monaten wurde in unübertroffener Effizienz eine Million Menschen umgebracht, nicht von staatlich beauftragten Schergen, sondern von der überstimulierten Bevölkerung selbst – ganz „normalen“ Menschen, die zu Bestien wurden. Es gebe, so Christian Gerlach in seiner Studie „Extrem gewalttätige Gesellschaften“, bei Prozessen der Massengewalt fast immer „zivilgesellschaftliche Akteure, die ohne staatliche Steuerung handeln.“ Das macht die Suche nach den Verantwortlichen und die internationale Sanktionierung solcher Verbrechen nur komplizierter.

Gerlach wirft der Genozid-Forschung mit ihrer Konzentration auf Ideen- und Ideologiegeschichte eine unzulässige Reduzierung von Komplexität vor. Bei kollektiven Ausschreitungen würden verschiedene Interessen zusammenspielen und „Koalitionen der Gewalt“ gebildet. Etwa beim Massenmord an den christlichen Armeniern während des Ersten Weltkriegs, als sich die türkisch-muslimische Bevölkerung am Besitz der Opfer bereicherte, vor dem Hintergrund der Umbrüche und Verarmungsprozesse im Osmanischen Reich. Die Schlussfolgerung des faktengesättigten, allerdings sperrig zu lesenden Buches ist beunruhigend: Genozide seien keine bizarren Ausnahmeereignisse, sondern wiederkehrende Begleiterscheinungen schwerer gesellschaftlicher Krisen.

Immerhin steht der Inflation der Gewalt in den Medien und den Exzessen der Historie bei den meisten Zeitgenossen ein erstaunlich friedlicher Alltag gegenüber. Schon kleinen Jungen wird heute die Lust am Raufen ausgetrieben. Wir sind auf gutem Weg – so jedenfalls die Überzeugung des Evolutionstheoretikers Steven Pinker, dessen monumentale Studie „Gewalt“ gerade erschienen ist, angekündigt als optimistische „neue Geschichte der Menschheit“. Duelle und Despotismus, Sklaverei und Menschenopfer, Nasenabschneiden und Daumenschrauben, Prügel in der Erziehung oder die Verfolgung von Minderheiten – all dies sind Gewaltpraktiken, die sich aufgeklärte Gesellschaften längst verboten haben. Das Projekt der Zähmung des Menschen ist womöglich weiter gediehen als es unsere gewaltbesessene Gegenwartskultur wahrhaben möchte.

Randall Collins: Dynamik der Gewalt. Hamburger Edition 2011. 736 S., 39 €

Terry Eagleton: Das Böse. Ullstein Verlag, Berlin 2011. 208 S., 18 €.

Christian Gerlach: Extrem gewalttätige Gesellschaften. DVA, München 2011. 576 S., 39,99 €.

Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 192 S., 19,90 €-

Steven Pinker: Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2011. 1312 S., 26 €.

Eugen Sorg: Die Lust am Bösen. Nagel und Kimche, Zürich 2011. 160 S., 14,90 €.

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