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Greisjung. Stéphane Hessel. Foto: p-a/dpa

© picture alliance / dpa

Kultur: Glücklicher Rebell

Empört Euch! Aber nicht nur. Stéphane Hessel will uns den Genuss des Altruismus lehren.

Das Wort „Phänomen“ wäre für seine Person wohl untertrieben. Stéphane Hessel und seine späte Karriere sind selbst im Sausewind der beschleunigten Sensationen nur als universeller Urknall noch halbwegs zu fassen. Nächsten Monat wird der in Berlin geborene und 1937 als junger Emigrant zum Franzosen gewordene Ex-Diplomat 95 Jahre alt. Vor zwei Jahren, im Herbst 2010, ist er plötzlich weltberühmt geworden – mit seiner nur 30 Seiten umfassenden Schrift „Empört Euch!“, die sich in Millionenauflagen und Übersetzungen auf allen Kontinenten verbreitet hat.

Dem Büchlein folgte bald darauf der kleine große Fortsetzungsappell „Engagiert Euch!“. Und seitdem reißt man sich um diesen auch in der persönlichen Begegnung höchst charmanten, mit einem schier unfasslichen Gedächtnis und einer nie ermüdender Geistesgegenwart begabten greisjungen Herrn. So sollte er am Donnerstag im Berliner Haus der Kulturen der Welt sein neues Buch vorstellen. Die Veranstaltung fällt jedoch wegen einer Erkrankung Hessels aus.

Es sind von und mit und über Stéphane Hessel zahlreiche, sich inhaltlich mitunter überschneidende Monografien oder Gesprächsbände erschienen. Hinter so viel Aufmerksamkeit steht natürlich zuallererst die Neugierde: Was macht wohl den Welterfolg eines Mittneunzigers aus, der auch den Zeitnerv vieler junger Menschen trifft, die sich heute in Nichtregierungsorganisationen (NGOs), in der „Occupy“-Protestbewegung oder etwa bei der „Arabellion“ engagiert haben?

In allen Hessel-Veröffentlichungen wird schnell klar, dass die Weltfinanzkrise um 2008 eine Art zweiter Wende markiert hat. Auf den Fall des Kommunismus schien ein unaufhaltsamer Sieg des Kapitalismus und, mit Einschränkungen, auch des westlichen Demokratiemodells zu folgen. Doch Balkan- und Nahostkonflikte, 9/11, Irakkrieg, religiöse Bewegungen, Klimawandel und weitere ökologische Krisen haben die Gewissheiten der „West is the Best“-Idee gewaltig demontiert. Und das Protestpotenzial eskaliert.

Um eben diese Probleme kreist auch Stéphane Hessels Denken. Der Pariser Weltbürger, der als Mitglied der Résistance (und Halbjude) Gestapo-Folter und die Konzentrationslager Buchenwald und Dora überlebt hat, ist heute der letzte lebende Mitverfasser der UN-Menschenrechtscharta von 1948. Nach seiner Laufbahn als französischer Diplomat unter anderem in New York, Saigon und Algier gilt sein Engagement als Autor, Reisender, Redner und nicht nur ideeller Förderer – der die Tantiemen seiner Protest-Seller für diverse NGOs spendet – dem friedlichen Kampf für die Menschenrechte.

Hessel handelt nicht mit wirklich explosivem Stoff. Er selbst und sein „Urknall“ ist von eher sanfter Natur, seine Stimme auf Französisch und in fließendem Deutsch und Englisch leise, doch beharrlich. Bei allem Verständnis dafür, über Hunger, Ausbeutung, Folter und Diktatur den Zorn des Gerechten (nicht Selbstgerechten) zu empfinden, ist ihm das deutsche Wort „Empörung“ eigentlich zu schrill. Und in der Bedeutung zu schmal. Hessel verweist lieber auf den französischen Originaltitel seiner Erfolgsschrift, auf das „Indignez-vous!“ Darin stecke das Wort „Dignität“, Würde, und „indigniert“ zu sein, meint für ihn: aufbegehren gegen die Verletzung der eigenen oder fremden Würde.

Hessel ist ein diplomatieerfahrener Völkerrechtler, kein Wirtschaftswissenschaftler oder akademischer Politologe. Eher der weise Kopf eines von den weltbrüderlichen Gedanken eines Gandhi, Martin Buber, Martin Luther King inspirierten politischen Idealismus. Im Gespräch mit Roland Merk, dem Herausgeber des neuen Bändchens mit dem Titel „An die Empörten dieser Erde!“, bemerkt Hessel einmal: „Für mich hängt die Möglichkeit der Reform vom Gefühl, vom Mitgefühl ab. Darum sage ich auch, dass es keine Philosophie mehr gibt, sondern nur noch Anthropologie.“ Denn: „Das reine Denken innerhalb der Denkmöglichkeiten ist nicht das, was wir brauchen!“

So wendet er sich gegen eine abstrakte Selbstreferenzialität der philosophischen Logik, will Moral und praktische Vernunft gleichsam post-kantianisch zusammenspannen, der Weltgeist springt da von Hegels Gaul herab und reitet lieber bodennäher die sozialrevolutionäre Tour eines Merleau-Ponty oder Richard Rorty. Hessel ist da auch ein Geistesverwandter Jean Zieglers: Wenn in einer Welt des ungerecht verteilten Überflusses jede Stunde tausende Kinder an Hunger verenden, kann es kein richtiges Leben im falschen Sterben geben.

Hessel will mit sozialer Empathie auch das tendenziell egoistische Individuum den Genuss, ja das Glück des Altruismus lehren. Dieses humanistische Prinzip, mit leicht fasslichen, doch kaum je naiven Worten vorgebracht, entfacht bei Hessel einen tatsächlich verführerischen Sog. In „Indignez-vous!“ hatte er Jean- Paul Sartres Plädoyer für den politisch engagierten Schriftsteller und Künstler zitiert, aber merkwürdigerweise nie Sartres geistigen Kontrahenten Albert Camus: nicht dessen „Mensch in der Revolte“, nicht dessen Würde des Absurden. Nicht dessen Beschwörung des glücklich Vergeblichen im Lichte des Sisyphos und seines steinigen Scheiterns. Hier blendet Hessel eine Dimension aus, geht auch im Gespräch mit Roland Merk auf dessen kurze Erwähnung Camus’ nicht weiter ein. Wie zum Selbstschutz: Philanthropologie statt Philosophie.

Neben einer „Bilanz“ der „Empörung“ und den Gesprächen zwischen Hessel und dem befreundeten Soziologen Edgar Morin („Wege der Hoffnung“) wirkt oft konkreter und überaus informativ der Band „Israel und Palästina. Recht auf Frieden und Recht auf Land“: eine von Farouk Madam-Bey moderierte, Ende 2011 geführte Diskussion zwischen Hessel und dem palästinensischen Historiker und Unesco-Botschafter Elias Sanbar. Bekanntlich ist Stéphane Hessel (selbstironisch: „Ich bin ein schlechter Jude, weil nur vom Vater her“) ein entschiedener Kritiker der israelischen Siedlungspolitik. Nach mehreren Reisen, auch in den Gazastreifen, wirft er der Regierung Netanjahu massive Verstöße gegen das Völkerrecht und die Menschenrecht der Palästinenser vor.

Bedauerlich ist da, dass kein Israeli, kein offener Kopf wie etwa der Schriftsteller David Grossman an diesem Dialog teilgenommen hat. Irritierend auch, wie eine am Ende angefügte Chronik des Nahost-Konflikts seit immerhin 1897, seit dem 1. Zionistischen Weltkongress in Basel, die Schoa ausblendet oder militärische oder terroristische Aggressionen gegen den Staat Israel eher herunterspielt.

Von Gewinn ist dagegen die selbstreflexive Nachdenklichkeit des Dialogs, in dem Elias Sanbar sich von arabischen oder anderen Holocaustleugnern und jedem Antisemitismus distanziert, zugleich aber die Tragödie der Palästinenser als Volk beschreibt, das gleichsam in Folge des fernen, fremden (und größeren) Unrechts in Europa ab 1948 ein neues Unrecht der Vertreibung und Enteignung erleiden musste. Hessel, der die Legitimität und Notwendigkeit der israelischen Staatsgründung nach der Schoa und dem Zweiten Weltkrieg verteidigt, reflektiert dazu die damalige Einschätzung der UN in einer Mischung aus Selbstkritik und Aufruf zur Versöhnung.

Ohne Versöhnung gibt es für Hessel auch nicht das immer wieder beschworene Recht aufs eigene Glück. Die Glücksuche ist, als geistige Mitgift seiner deutsch-französischen Mutter Helen Grund, auch ein Schlüsselbegriff des Hesselschen Lebens. Und Überlebens. Das skizziert recht eindrücklich die neue Biografie, die Manfred Flügge vorgelegt hat. Auch Flügge hat in Paris lange Gespräche mit Hessel geführt und er ist ein vorzüglicher Kenner der deutschen Exilliteratur und der Geschichte der Emigration. So fängt er auch die Welt des Vaters, des poetischen Flaneurs Franz Hessels ein, den Weg der Familie von Berlin nach Paris oder Dichtung und Wahrheit jener Ménage à trois der Hessel-Eltern mit dem französischen Autor Henri-Pierre Roché, die in François Truffauts Film „Jules et Jim“ gespiegelt wurde. Flügges oft intim-psychologisch angelegtes Buch zeigt auch den musischen Poesiekenner Hessel. Dessen vergriffene Autobiografie „Tanz mit dem Jahrhundert“ war mit ihren Exkursen zur französischen Nachkriegsdiplomatie nicht unbedingt an eine deutsche Leserschaft adressiert. Dafür gibt es nun das lange kurzweilige Leben als „Glücklicher Rebell“.

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