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Die Erben rotieren. Frank Castorf ist mit seiner Münchner Inszenierung nach Bertolt Brechts „Baal“ zum Theatertreffen eingeladen. Der Suhrkamp Verlag will auf Druck der Rechteinhaber die Aufführung verbieten lassen – zu freier Umgang mit dem Text.

© Thomas Aurin

Die Jury hat entschieden - wer spielt beim Theatertreffen?: Godot kann kommen

Aber was ist mit Brecht? Die Auswahl für das 52. Berliner Theatertreffen bringt viele junge Talente – und den umkämpften Münchner „Baal“.

Wird das Theater wieder politisch? Große Frage. Schwer zu beantworten. Yvonne Büdenhölzer, die Leiterin des Berliner Theatertreffens, wirft sie auf. Weil die Auswahl für das diesjährige Festival (1. bis 17. Mai) nicht wenige Themen von gesellschaftlichem Schwergewicht auf die Bühne bringt. Oder gar unmittelbar an die Realität gekoppelte Brisanz besitzt. Was mit der Einladung der gerade hoch umstrittenen „Baal“-Inszenierung von Frank Castorf am Münchner Residenz-Theater beginnt.

Castorfs „Baal“ ist ins Fadenkreuz der berüchtigten Brecht-Erben geraten. Weil der Volksbühnen-Intendant, wie seit einigen Jahrzehnten Usus in seinen Inszenierungen, Fremdtexte verwendet hat, unter anderem von Rimbaud, Sartre und Fanon. Woraufhin der Suhrkamp Verlag jetzt eine Urheberrechts-Verletzung feststellen musste und auf eine einstweilige Verfügung drängt, um die Absetzung der Aufführung zu erzwingen.

„Wir hoffen, dass die Einladung ein Impuls an die Brecht-Erben ist“, sagte Juror Till Briegleb auf der Pressekonferenz am Montag, bei der die Nominierungen der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des deutschsprachigen Raums verkündet wurden. Die Theatertreffen-Jury als schnelle Eingreiftruppe im Kunststreit? Warum nicht. Die Einladung lässt sich schließlich auch inhaltlich begründen. Die Überblendung der Geschichte vom Weiberfresser-Wüstling mit Francis Ford Coppolas irrlichterndem Vietnam-Film „Apocalypse Now“ überzeugte die Juroren: der Soldat als Prototyp eines Baal, Krieg als Exzess.

Um einen Konfliktschauplatz mit Nachhall geht es auch in „Common Ground“ von Yael Ronen. Mit der Einladung ihres Rechercheprojekts über den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien ist erstmals das Maxim Gorki Theater in der Intendanz von Shermin Langhoff und Jens Hillje beim Theatertreffen vertreten. Ein verdienter Erfolg, immerhin schon in der zweiten Saison. Überraschend kommt er nicht. Zum einen, weil das Haus bereits die Auszeichnung „Theater des Jahres“ erringen konnte und sowieso talk of the town ist. Zum anderen, weil Ronen und ihr Ensemble großartige Arbeit geleistet haben. Verflochten werden Familiengeschichten von Berliner Schauspielerinnen und Schauspielern, die teils Kinder von Opfern, teils Kinder von Tätern sind.

Für politisch relevant befunden wurde außerdem Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“, uraufgeführt bei Matthias Lilienthals Festival „Theater der Welt"“ in Mannheim, im September 2014 dann am Thalia Theater zur Premiere gebracht. Jelinek hat diesen Text – dessen Titel sich auf Aischylos’ Drama „Die Schutzflehenden“ bezieht – unter dem Eindruck der Katastrophe von Lampedusa geschrieben, bei der 390 Menschen ums Leben gekommen waren. Und dazu auch die Besetzung der Wiener Votivkirche durch überwiegend pakistanische Geflüchtete anno 2012 mit einfließen lassen. Ihr Stück spreche, so Jurorin Barbara Burckhardt, „über uns als Zivilgesellschaft“. Über unsere Feigheit und Angst vor dem Fremden.

Die Sorgen des weißen Westeuropäers sind auch Thema im Stück „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz, das in der Wiener Inszenierung von Dušan David Parizek nach Berlin kommt. In dem wild mäandernden Assoziationsdschungel des jungen Autors verhandeln zum Beispiel somalische Piraten, deutsche Soldaten in Afghanistan und italienische Uno-Offiziere postkoloniale Fragen des Miteinanders. Auf der Folie von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, der „Apocalypse Now“-Vorlage, mit der sich hier ziemlich heutige Fragen stellen lassen.

Ein Wahnsinn: Die Jury hat 379 Inszenierungen in 54 deutschsprachigen Städten gesichtet, 36 davon ausgiebig diskutiert und erfreulich viel Gegenwart gefunden. Schon lange gab es nicht mehr so viel Nachwuchs vor allem unter den Autoren beim Theatertreffen. Ebenfalls aus Wien wird „die Unverheiratete“ von Ewald Palmetshofer anreisen, ein Stück über drei Frauengenerationen mit einer Großmutter im Zentrum, die anno 1945 einen vermeintlichen Deserteur an die Nazis verpfiffen hat. Regie führt der junge Robert Borgmann, der im vergangenen Jahr bereits mit seinem Stuttgarter „Onkel Wanja“ in Berlin gastiert hat. Vielversprechend ist auch der „Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky in der Regie von Thom Luz, eine Produktion des Schauspiels Hannover.

Aus Berlin kommt auch Becketts Godot

Ganz auf Klassiker verzichten müssen die Theaterbesucher dennoch nicht. Immerhin ist Ibsens „John Gabriel Borkman“ vom Hamburger Schauspielhaus in der Regie von Karin Henkel eingeladen, womit Henkel zum fünften Mal in Folge beim Theatertreffen gastiert, rekordverdächtig. Und freilich zählt auch „Warten auf Godot“ zum dramatischen Fundus. Ivan Panteleevs Beckett-Inszenierung mit Wolfram Koch und Samuel Finzi – eine Koproduktion zwischen den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Deutschen Theater Berlin – sollte ursprünglich noch Dimiter Gotscheff inszenieren. Nun ist es ein ganz eigener Tanz um die Leere geworden, die Bühnenbildner Mark Lammert mit einem Loch in der Bühne schafft. DT-Intendant Ulrich Khuon wird sich freuen, endlich mal wieder ein Erfolg für sein notorisch kritisch beäugtes Haus.

Komplettiert wird die Auswahl durch zwei Filmadaptionen. An den Münchner Kammerspielen hat Susanne Kennedy Rainer Werner Fassbinders „Warum läuft Herr R. Amok?“ in ein „sadistisches Menschenexperiment“ (so Juror Peter Laudenbach) verwandelt. Nach „Fegefeuer in Ingolstadt“ ist das die zweite Einladung für die extrem formstarke Regisseurin. Und in Stuttgart wirbelt der gerade 30-jährige Newcomer Christopher Rüping „Das Fest“ von Thomas Vinterberg und Mogeln Rukov durcheinander. Familienhöllen – der zweite Themenschwerpunkt neben der großen Politik.

Und was passiert, wenn Castorfs Inszenierung nicht gezeigt werden darf? Nachnominiert wird nicht. So oder so werde man im Zweifelsfall „die Leerstelle füllen“, verspricht Yvonne Büdenhölzer. Vielleicht kommt der Münchner „Baal“ ja auch ohne Brecht-Text aus. Der Name des Gottes taucht zum ersten Mal vor reichlich dreitausend Jahren in der Mythologie auf. Und Brecht hat das Urheberrecht auch nicht erfunden.

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