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Kultur: Gold im Eimer

Russlands schwarze Archäologie: Immer mehr kostbare Grabungsstätten fallen Kunsträubern zum Opfer. Man braucht nur einen Metalldetektor – und der Staat schaut zu

Gleich neben dem neuen Ryazan, einer Provinzhauptstadt 250 km südöstlich von Moskau, ragen die Ruinen der alten Stadt in den grauen Himmel: Kunstvoll gemauerte Bögen einer Hallenkirche aus dem zehnten Jahrhundert. Alt-Ryazan gehört zu den ältesten Städtegründungen in Zentralrussland. Die vergoldeten Kirchenkuppeln versprachen Batu, einem Enkel Dschingis Khans, 300 Jahre später reiche Beute. Doch enttäuscht zogen seine Mongolen-Horden weiter, nachdem sie die Stadt bis auf die Grundmauern niedergebrannt hatten: Den vergrabenen Kirchenschatz hatten sie nicht gefunden. Das gelang erst den Barbaren des 21. Jahrhunderts: Hobby-Archäologen mit ausgeprägtem Geschäftssinn – und null Interesse für die Geschichte.

In Russland, klagte kürzlich das Staatsfernsehen, sei ein ganzes Netzwerk von Altertumsschändern und Räubern am Werk. Um die These zu illustrieren, musste das TV-Team nicht weit fahren. Fündig wurden sie schon auf dem Flohmarkt von Ismailowo im Moskauer Osten, wo Trödler neben wertlosem Tand auch unschätzbare Fundstücke aus einem Grabhügel der Bronzezeit verscherbelten. Seriöse Altertumsforscher, im Branchenslang „weiße Archäologen“ genannt, tragen vorsichtig Kulturschicht um Kulturschicht ab; die Raubgräber von der „schwarzen Gilde“ dagegen hinterlassen ein schwarzes Loch, im Boden und für die Forschung.

„Eine Grabungsstätte“, sagt Alexej Tschernjezow, der Chef der Expedition, die in Ryazan gräbt, „ist ein Buch, das man nur einmal lesen kann. Wenn Räuber graben, sind neben den Artefakten auch die Botschaften vergangener Epochen zerstört.“ Tschernjezows Team hat in Ryazan schon zweimal Gold und 13 Mal Silber gefunden. Die Plünderer, die dort mehrmals mit Wagen ohne Nummernschild und Pistolen gesichtet wurden, womöglich noch öfter. Dinge, die aus der alten Stadt stammen könnten, hat er jedenfalls schon in durchaus seriösen Antiquariaten wiedergefunden, auf Moskaus Flaniermeile, dem Alten Arbat.

Kein Wunder: Ausgerechnet Russland, das für jeden gewöhnlichen Gewerbeschein einen Papierkrieg mit den Behörden verlangt, schaffte Lizenzen für den Handel mit Antiquitäten im Herbst ersatzlos ab. „Im Prinzip", so Tschernjezow, „kann jetzt auch ein Gemüsehändler das Gold der Skythen versilbern.“ Vorausgesetzt, er hat eine elektronische Registrierkasse, damit der Fiskus seinen Anteil von fünf Prozent einklagen kann.

Hobby-Archäologen habe es immer gegeben, meint Ilja Rjasnoj von der Hauptabteilung Kunstraub im Innenministerium. Jetzt nehme das Phänomen aber Größenordnungen an, die auf kommerzielle Interessen schließen lassen. Der Fahnder ist machtlos: „Wenn wir jemanden erwischen, redet der sich damit heraus, dass keine Tafel die Grabungsstelle kennzeichnet. Und wenn er nicht direkt mit dem Spaten erwischt wird, behauptet er, er habe das Zeug gerade einem Alkoholiker abgekauft.“ Ärger mit dem Kadi gibt es vorerst nur noch bei mutwilliger Zerstörung von archäologischen Denkmälern. So musste Alexander Sankow eine Strafe von etwa 850 Euro zahlen, weil er in der Kaukasusrepublik Adygeja einen Grabhügel der Skythen aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. mit dem Bulldozer umgewühlt hatte. Eine Summe, die erfahrene Schatzsucher mit etwas Glück in einem Monat wieder einspielen.

Ein Metalldetektor, unerlässlich für Grabungen, kostet zwar mindestens 1000 Dollar. Doch die Investition lohnt sich. Ob Goldbarren oder Hufnagel vom Ross altslawischer Recken: Das Ding reagiert auf jedes Metallstück, das nicht tiefer als anderthalb Meter unter der Erdoberfläche liegt. Nach Schätzungen des Instituts für Archäologie der Russischen Akademie der Wissenschaften suchen die „schwarzen Archäologen“ derart ausgestattet jährlich an mindestens 1000 Grabungsstellen nach Schätzen. Viele davon sind der womöglich einzige Schlüssel für ungelöste Rätsel der Geschichte. „Eine geplünderte Grabungsstelle“, sagt Tschernjezow, „ist wie ein Mensch, dem das Gedächtnis amputiert wurde. Er kann nichts mehr erzählen.“

So wie die ausgeraubte Höhle in der kaukasischen Teilrepublik Karatschai-Tscherkessien mit dem Christuskopf an der Felswand. Er entstand Jahrhunderte, bevor Russland sich zum Christentum und die Kaukasier sich zum Islam bekannten. Wer hat die Dornenkrone gemalt? Seidenstraßenhändler? Missionäre aus Byzanz? Wer hat in der Bronzezeit die rätselhafte, kreisrunde Stadt im Südural gebaut? War sie Zwischenstation für Emigranten aus dem Schwarzmeer-Raum? Eben dort siedeln russische Forscher inzwischen Hyperborea an, das Nordland der Sage, das bisher keiner fand.

Fragen, die nun womöglich unbeantwortet bleiben. Denn die Raubgräber sind oft schneller als die Forscher: Archäologische Denkmäler finden sich in Karten eingezeichnet; Fachliteratur aus jeder größeren Bibliothek informiert detailliert über bereits getätigte Funde. „Die schwarzen Archäologen liefern uns einen Kampf um unsere Geschichte, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt“, fürchtet Ausgräber Tschernjezow.

Und doch: Vielleicht wird alles gut. Vielleicht begreift Wladimir Putin, dass die Laxheit im Umgang mit Archäologen ein Ende haben muss: Nächsten Sommer will er jedenfalls einen Teil seines Urlaub mit Archäologen auf einer Grabungsstätte im Norden verbringen. Pinsel und Spatel hat er sich schon besorgt.

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