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Google Street View: Neues Verständnis von Öffentlichkeit

Ob Geheimdienste oder Personalchefs: Sie alle schauen längst auf Seiten wie Facebook oder Youtube. Das Netz verändert die sozialen Spielregeln und die e-Reputation wird zum Lebenslangzeitprojekt.

Natürlich ist es eine Scheindebatte. Das merkt man schon daran, wie emotional bis empört sie geführt wird, wie selbstverständlich Anekdoten mit Argumenten verwechselt werden. Viel ist dieser Tage die Rede von ertappten Sexshopbesuchern und nackten Terrassenbesitzern. Und natürlich von finsteren Diebesbanden, die sich in dunklen Zimmern schon die Hände reiben.

Die Fronten sind abgesteckt: Während die baldige Einführung von Google Street View die Netzeuphoriker im Chor Halleluja schreien lässt, outen sich die politischen Repräsentanten fraktionsübergreifend als kamerascheue Häuslebesitzer. Dazwischen eine Bevölkerung, die – laut Umfragen – zumindest zwiespältig ist. Google selbst hüllt sich in Schweigen.

Was wissen wir also? Zumindest so viel: Der Widerspruch des Einzelnen wird nur symbolischen Charakter haben, die Digitalisierung von Stadt, Land, Welt wird von ein paar deutschen Pixelinseln nicht aufgehalten. Egal wie viele Vorhänge wir auch zuziehen, wie hohe Hecken wir auch pflanzen, die schöne neue Welt wird trotzdem ans Fenster klopfen.

So what? Dann kann man halt digital durch die Straßen laufen. Bestenfalls perfektionieren Google Suche plus Google Street View die adressatenoptimierte Echtzeit-Information, dezent untermalt mit sachdienlichen Werbehinweisen. Ist doch praktisch, zum Beispiel wenn man die Lage von Immobilien checken will. Wohnungssuchen werden bald gänzlich von zu Hause aus stattfinden können, Reisen im Voraus noch detaillierter plan- und visualisierbar. Bestenfalls heißt das: ein paar Enttäuschungen weniger im ohnehin komplizierten Privatleben.

So weit, so harmlos. Doch damit sind, das dämmert mittlerweile selbst den letzten fünf Faxbesitzern, die Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft. Die Verknüpfung von Netz und Raum steckt erst in den Kinderschuhen. Sie wird zukünftig noch ganz andere Informationsengführungen gebären. Banales Beispiel: Ich gehe an einem Haus entlang und mein Display zeigt an, welcher Prominente hier wohnt. Was er gerade postet. Ob er vielleicht zu Hause ist. Und wo keine News aus erster Hand verfügbar sind, werden Gerüchte-Schnipsel und Fan-Kommentare eingeblendet.

Der Medienphilosoph Vilém Flusser hat Ende der 80er Jahre bereits von einer solchen „dach- und mauerlosen Architektur“ geträumt. „Reversible Kabel“ und virtuelle Löcher in den Mauern sollten jederzeit die Kommunikation in alle Richtungen ermöglichen. Flussers Vision war die absolute Interaktionsfähigkeit: „Die Leute könnten sich nirgends mehr ducken, sie hätten weder Boden noch Rückhalt. Es bliebe ihnen nichts übrig, als einander die Hände zu reichen.“ Diese „einander offenen Häuser“ würden dann, so Flussers Hoffnung, „einen bisher unvorstellbaren Reichtum an Projekten erzeugen“.

Reichtum an Projekten klingt auch heute noch gut, vor allem in den Ohren eines Werbemonopolisten. Die statischen Google-Street-View-Bilder, die schnell veralten, werden schon deshalb nicht der Endpunkt der Entwicklung sein, wieso auch. Oder wie Google-Mitarbeiter Aaron Koblin dem „elektrischen Reporter“ Mario Sixtus vor einiger Zeit das Prinzip „Realitätsanreicherung“ erklärte: „Es liegt auf der Hand, Facebook-artige Informationen zu nehmen und diese am jeweiligen Standort anzuzeigen.“

Natürlich liegt das auf der Hand. Die Frage wird sein, in wessen Hand es liegt, zu erlauben oder zu untersagen. Zurzeit entscheiden die amerikanischen Marktführer am liebsten selbst, welche personenbezogenen Daten sie für wie öffentlichkeitsrelevant halten. Wer sich dieser Sippenhaft entziehen will, das wissen wir spätestens seit dem Eklat um Facebooks Profileinstellungen, der muss sich kümmern, muss insistieren, mahnen, drohen.

Vor knapp dreißig Jahren haben die misstrauischen Deutschen schon mal insistiert, demonstriert und geklagt. Um eine flächendeckende „Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung“ ging es damals. Im Dezember 1983 stoppte das Verfassungsgericht das umstrittene Gesetz. Und lieferte eine erstaunlich weitsichtige Begründung: Weil bei der digitalen Datenverarbeitung „nicht mehr wie früher auf manuell zusammengetragene Karten und Akten zurückgegriffen werden muss“, drohten in der Tat zahlreiche und unüberschaubare Verknüpfungsmöglichkeiten der Informationsbausteine. Die nachträgliche Anonymisierung biete dagegen keinen Schutz, sie könnte mit mathematischen Verfahren leicht rückgängig gemacht werden.

Damit, so schlussfolgerten die Verfassungsrichter, „haben sich in einer bisher unbekannten Weise die Möglichkeiten einer Einflussnahme erweitert, welche auf das Verhalten des Einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme einzuwirken vermögen.“ Mit anderen Worten: Wer sich von fremden Mächten beobachtet und langzeitgespeichert fühlt, der benimmt sich anders. Angepasster. Der bohrt auf dem Balkon vielleicht nicht mehr in der Nase, gründet aber vielleicht auch keine aufsässige Bürgerinitiative mehr.

Und schuld daran sind eben nicht nur die zweifelhaften AGBs selbstherrlicher US-Unternehmen – auch wenn die Verbraucherschutzministerin darin den einzigen Feind erkannt haben will. Die informationelle Selbstbestimmung, das ahnte man 1983, wird durch die Digitalisierung von Informationen viel grundlegender unterhöhlt. Es liegt schlicht in der Struktur des Mediums: Datensammlungen ohne Verfallsdatum, die sich systematisch durchsuchen und zusammenpuzzeln lassen – egal wann, wo, von wem und zu welchem Zweck.

Und nicht immer googelt nur ein skeptischer Personalchef, nicht immer geht es nur um Fotos von der Sangriaparty auf Malle. Bei Youtube und Twitter gucken längst auch die Geheimdienste mit. Im letzten Sommer wurden beide Plattformen noch als Wegbereiter der iranischen Demokratisierung gefeiert, heute ist klar, dass die Texte und Bilder nachträglich auch vom iranischen Regime ausgewertet wurden.

Auch in den westlichen Demokratien verändert das Netz, das vieles weiß und nichts vergisst, die sozialen Spielregeln. Das Gegenüber mal kurz auschecken, sich heimlich ein Bild machen, ist bereits zum akzeptierten Bestandteil des privaten und beruflichen Umgangs geworden. Im Umkehrschluss steigt der subtile Zwang zur digitalen Fassadenpflege, nicht nur für Hoteliers. Politiker verfolgen ängstlich ihre Youtube-Erscheinung, Studienabgänger feilen am vorteilhaften Google-Ranking, Arbeitnehmer an der allzeit charmanten Xing-Ausstrahlung.

Die tadellose e-Reputation ist zum Lebenslangzeitprojekt geworden. Demnächst wird eine feine Scheinadresse auf Google Street View das Bild abrunden.

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