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Vorwärts in den digitalen Schlund. Eine „Google-Geisterbahn“ bei der Biennale von Sydney.

© Quentin Jones/dpa

Google und die Literatur: Die Spaltung der Zukunft

Das Digitale verändert die Zukunft des Schreibens. Eine radikale Alternative wäre, es ganz aufzugeben. Oder, ebenso radikal: Es sich restlos anzueignen. Plädoyer für einen schadenfrohen Missbrauch des Internets.

Vor ein paar Jahren entbrannte in der „New York Times“ ein kleiner Streit zwischen Kevin Kelly, dem Gründungsredakteur der Zeitschrift „Wired“, und dem Romancier John Updike. Kelly sagte fröhlich eine Zukunft voraus, in der sich alle Bücher in der Suppe einer digitalen Universalbibliothek auflösen würden: einer nicht aus der Sammlung einzelner Werke bestehenden, sondern von Grund auf zusammengewürfelten Bibliothek. „Die Universalbibliothek wird zu einem einzigen sehr, sehr, sehr großen Text: dem einzigen Buch der Welt.“ Diese Universalbibliothek, argumentierte Kelly, werde eine andere Art des Schreibens und Lesen ermöglichen, die Werke zerschnipselt und neu zusammensetzt.

Nun, ich habe einige Sympathie für diese Art zu denken. Doch ich habe auch einige Sympathie für die bange Antwort von John Updike, der sich darum sorgte, dass das, was für das Lesen wesentlich ist, nämlich „persönliche Zurechenbarkeit und Intimität“, in dieser digitalen Zukunft verloren gehe. Er schloss mit einer einfachen Frage: „Bücher haben traditionell Kanten: Manche sind scharf, manche sind weich, und einige, zumindest diejenigen meines extravaganten Verlags, haben sogar einen farbigen Schnitt. Wo im elektronischen Ameisenhügel bleiben die Kanten?“ In diesem Streit liegen, so scheint mir, allerdings sowohl Kelly wie Updike falsch. Sie haben beide nicht erkannt, dass ein Werk unabhängig von seinem Medium besteht. Und ohne Werke ist das Denken, das Lesen und Schreiben betreiben, unmöglich.

Dennoch gefällt mir der Zukunftstraum. Mit gefällt auch die Vorstellung, dass die neuen Produktionsmethoden uns mit neuem Gerät ausstatten. Es bietet eine Art, Literatur zu schreiben, die von der Geschichte dieser Literatur noch nicht durchdrungen ist. Besser gesagt, sie bietet eine Art des Schreibens, in der die Geschichte eben jener Literatur neu geordnet werden kann, wie auch der digitale Leser die Elemente eines Werks neu anordnen kann. Walter Benjamin behauptete bekanntlich in seinem berüchtigten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, dass die mechanische Reproduktion von Kunstwerken deren Authentizität gefährde und damit die Übertragbarkeit von Geschichte – die Autorität des Objekts.

Das Digitale ist das schönste Medium, das für Romanciers erfunden wurde. Und für Diktatoren.

Es stimmt, dass ich keine Kunst will, die von jeglicher Tradition abgekoppelt ist. Aber mir scheint auch, dass die Kunst des Romans, diese auf Reproduktion beruhende Kunst, sich immer einen Spaß daraus gemacht hat, die Geschichte als ganze zurückzuweisen. In einem Essay über neues Schreiben führte César Aira als perfektes Werk John Cages „Music of Changes“ ins Feld: eine Komposition, die auf Zufallsprinzipien und dem „I Ging“ beruht, dem chinesischen Buch der Wandlungen. Aira erklärte: „Cage rechtfertigte den Einsatz des Zufalls, indem er sagte, dass ,es auf diese Weise möglich ist, eine Komposition zu erstellen (...), deren innere Folgerichtigkeit frei von individuellem Geschmack und Erinnerungsleistung (Psychologie) und daher also von den Traditionen von Kunst ist‘.“ Es war immer der Traum der Avantgarde, das Geisterhafte von Geschichte zu dekonstruieren.

Und dennoch bin ich immer noch nicht zufrieden. Meine wahre Melancholie beginnt, wenn ich über Vertriebsprobleme nachdenke. Keine Frage: Einerseits eröffnet das Digitale neue Vertriebswege. Es erlaubt eine Art von neuem, langsam tröpfelndem und einsickerndem Ökosystem, in dem Autoren und Leser zu einem gewissen Ideal von Nachbarschaft zusammenfinden.

Dies aber ist ja nun das Zeitalter der Cloud und der NSA. Die Gefahr, sei sie finanziell oder politisch, ist die einer totalen Überwachung – und das Digitale ist nicht nur das schönste Medium, das für künftige Romanciers erfunden wurde, sondern auch für künftige Diktatoren. Denn wir sollten nicht vergessen, dass die Organisationen, die am lautesten nach dem neuen Roman rufen, einem digitalisierten und rein elektronisch hergestelltem Roman, oft auch diejenigen sind, die ein zusehends wirtschaftlich erschlossenes Werk wollen, eines, das nicht mehr allein künstlerisch ist, sondern offen für Werbung.

Boris Groys hat brillant analysiert, wie Google funktioniert: Es löst Diskurse auf und verwandelt sie in Clouds aus Wörtern

In einem Katalogtext für Tacita Dean klagte ich über die Art und Weise, mit der jeder Seitenklick kontrolliert wird, und fürchtete um die Zukunft der Avantgarde, falls jede Form künstlerischer Gestaltung dem Terror der Spannung unterworfen wird. Wie mich auch eine digitale Bibliothek beunruhigt, die vor allem von Lesern aufgesucht wird, die sich von Algorithmen dazu haben anleiten lassen.

Andererseits gibt es kein Leben ohne Doppeldeutigkeit. Eine der brillantesten Untersuchungen in dieser Hinsicht hat Boris Groys geleistet, der in einer Broschüre für die letzte Documenta die neue Linguistik diskutierte, der wir uns alle ausliefern: der Philosophie von Google. „Heute“, schrieb Groys, „führen wir unseren Dialog mit der Welt in erster Linie über das Internet. Wenn wir der Welt Fragen stellen wollen, betätigen wir uns als Internetnutzer. Und wenn wir die Fragen beantworten wollen, die uns die Welt stellt, handeln wir als Content Provider. In beiden Fällen wird unser Dialogverhalten von den spezifischen Regeln definiert, nach denen Fragen innerhalb des Internet-Rahmens gestellt und beantwortet werden können.“

Jeder weiß, wie dieser Dialog aussieht: „Jede Frage muss als ein Wort oder eine Kombination von Wörtern formuliert werden. Die Antwort wird als Reihe von Kontexten gegeben, in denen dieses Wort oder die Wortkombination von der Suchmaschine entdeckt wird. Das heißt, dass Google die zulässige Frage über die Bedeutung des einzelnen Wortes definiert. Und es identifiziert die zulässige Antwort auf diese Frage als eine Anzeige sämtlicher zugänglicher Kontexte, in denen dieses Wort auftaucht.“ Groys erklärt Google also zu einem avantgardistisches Gebilde – der futuristischen Maschine schlechthin. „Google löst alle Diskurse auf, indem es sie in Clouds von Wörtern verwandelt, die als Wörtersammlungen jenseits der Grammatik fungieren.“

Hier entsteht ein Problem. Denn nachdem Google begrenzt ist, und nachdem wir wissen, dass seine Algorithmen eine Vorauswahl treffen und deshalb nur ein äußerst begrenztes Angebot aller verfügbaren Kontexte liefern, bemächtigt sich ein Verschwörungsverdacht unseres Denkens. „Das Subjekt einer Google-Suche wird in ein Ringen um Wahrheit verstrickt, das sowohl metaphysisch wie politisch und technologisch ist.“ In genau dieser doppeldeutigen Situation befinden wir uns gerade. „Das ,real existierende‘ Google kann nur aus der poetischen Perspektive eines sozusagen utopischen Google kritisiert werden – eines Google, das die Ideen von Gleichheit und Freiheit für alle Wörter verkörpert.“

Seien wir uns doch im Klaren: Politisch gesehen, ist das Digitale fast immer die wirkende Kraft einer Spaltung. Es ist nicht nur das Medium der Literatur, sondern auch das des Finanzwesens. Das Digitale kann einen absoluten Konservatismus verstärken, dem überdies zu Hilfe kommt, dass er uns eine Totalzerstreuung auferlegt. Aber während es eine radikale Alternative ist, das Digitale ganz aufzugeben und Materialien, Objekte und eine Art animalischer Avantgarde zu erforschen, bei der die Kunst des Romans von einer Rückkehr zur Taktilität des Buches verkörpert wird, gibt es auch eine zweite Form des Radikalismus: sich das Digitale anzueignen. Es ist die Möglichkeit einer solchen Aneignung und eines solchen schadenfrohen Missbrauchs, der mich für die unberechenbare Zukunft so fröhlich stimmt.

Aus dem Englischen übersetzt von Gregor Dotzauer. – Adam Thirlwell, 1978 in London geboren, zählt zu den besten britischen Autoren seiner Generation. Zuletzt erschien im S. Fischer Verlag sein Buch „Der multiple Roman“. Sein Text ist ein Auszug aus dem Eröffnungsvortrag, den Thirwell für die Konferenz „Literatur digital“ schrieb. Sie fand am Freitag und Samstag im Haus der Kulturen der Welt Berlin statt. Sie wurde kuratiert von Katharina de la Durantaye (Humboldt Universität) sowie den Schriftstellern Mathias Gatza und Ingo Niermann, die zu der Autorenvereinigung Fiktion gehören, die den digitalen Raum literarisch neu erobern will. Auf der Website fiktion.cc finden sich weitere Informationen.

Adam Thirlwell

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