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Goran Petrovic: Die Villa am Rande der Zeit

Goran Petrovic erfindet in seinem Roman "Die Villa am Rande der Zeit" Leser, die fühlen, schmecken und riechen, was in Texten steht. Ein Buchrezension über Tabak und Tinte.

Ein Buch ist ein Kontinent, der im Kopf eines jedes Lesers anders ausssieht. Doch alle kennen diesen wundersamen Effekt der Buchstaben in Städte, Gesichter und Gefühle verwandelt. Michael Ende hat die Magie des Lesens in seiner „Unendlichen Geschichte“ beschrieben, und auch Cornelia Funke spielt in ihren „Tintenherz“- Bestsellern mit der Idee, dass Geschichten wahr werden können.

Eine ganz eigene, Variation dieses Themas hat sich der Belgrader Autor Goran Petrovic für seinen Roman „Die Villa am Rande der Zeit“ ausgedacht. Darin haben besonders sensible Menschen die Fähigkeit des „vollständigen Lesens“: Sie tauchen derart tief in ein Buch ein, dass sie die beschriebenen Welten tatsächlich erleben. Sie sehen, schmecken, fühlen und riechen, was in den Sätzen steht. Und das Beste: Sie können andere Leser und Leserinnen treffen, die sich zur gleichen Zeit wie sie mit einem Text beschäftigen.

Der zwölfjährige Anastas Branica entdeckt im Jahr 1906 bei der Lektüre eines Abenteuerromas, dass er Zutritt zu den Parallelwelten der Literatur hat. Er versinkt in der Beschreibung eines Strandes. Zum ersten Mal in seinem Leben läuft er ein paar Schritte ins Meer hinein. Als er aufhört zu lesen, hat er ein wenig Wasser und Sand ins Arbeitszimmer seines Stiefvaters gebracht, worauf dieser mit Beschimpfungen und einer Ohrfeige reagiert. Aus dem Jungen wird trotzdem ein leidenschaftlicher Leser. Und 21 Jahre später – sein Stiefvater ist tot – begegenet er in einem Buch über hellenistische Architekur der Liebe seines Lebens: Nathalie Houville, eine fanzösische Ingenieurs-Tochter. Sie lebt wie Anastas in Belgrad, spricht Serbisch und wird von einer Gouvernante aufs Heiraten vorbereitet. Monatelang treffen sich die beiden heimlich auf den Seiten des Studie, später auch in anderen Büchern.

Schließlich beginnt Anastas nur für sich und seine Geliebte einen Roman zu schreiben – in Briefform und in jeweils doppelter Ausfertigung. Er enthält keine Handlung, sondern nur die extrem genaue Beschreibung einer Villa mit einem wunderschönen Garten. Beim Schreiben geht Anastas, der aufgrund seines Erbes nicht arbeiten muss, so akribisch zu Werke als baue er tatsächlich ein Haus.

Er recherchiert in Büchern, tritt in Kontakt mit einem Pariser Gartenfachmann, konsultiert Steinmetze und Vermessungsingenieure. „Er holte sich Rat und scheute auch nicht davor zurück, auf dem Kalenic-Markt oder dem Markt am Zelini Venac für gewisse Kenntnisse der Bauern zu bezahlen, die über diesen seltsamen Mann staunten, der für jedes Wort, das er noch nicht gehört hatte, eine neue Zehn-Dinar-Silbermünze gab.“ Anastas’ Vermögen schwindet. Er selbst scheint sich bald nur noch von Tabak und Tinte zu ernähren – angetrieben allein von der glühenden Verehrung für Nathalie und dem Wunsch sie mit seinen Worten in Verzückung zu versetzen.

Um das so entstehende Buch mit den Titel „Mein Vermächtnis“ spinnt Goran Petrovic zunächst zwei, später noch einen dritten Erzählstrang. Beide spielen rund 50 Jahre nach Anastas Branicas Tod, also etwa Ende der achtziger Jahre. Es ist ein noch komplett analoge Welt, die fast nur von Büchermenschen bevölkert wird, was sie noch entrückter erscheinen lässt. Die angenehm altertümliche Anmutung der „Villa am Rande der Zeit“ wird verstärkt durch die das behutsame Erzähltempo, die kursiv gesetzten Zusammenfassungen vor jedem Kapitel und die virtuose Verwendung kleiner Motive, die wiederholt auftauchen. Im letzten Drittel gewinnt diese leichthändige Mischung aus historischen, romantischen und fantastischen Elementen dann deutlich an Zug und Spannung. Sie entwickelt genau den Lesesog, den Petrovik immer wieder beschreibt. In Serbien war der dort bereits vor elf Jahren erschienene Roman ein Bestseller. Und wenn Hollywood sich klug anstellt, gibt es vielleicht auch bald eine Filmversion dieser wunderbaren Hommage an das ewig junge Medium Buch. Nadine Lange

Goran Petrovic: Die Villa am Rande der Zeit. Roman. Aus dem Serbischen von Susanne Böhm-Milosavljevic. dtv, München 2011. 400 Seiten, 14,90 €.

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