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Kultur: Gott ist ein Lügner

Am Katzentisch mit Cherie Blair und Hillary Clinton: Roberto Benigni über seinen „Pinocchio“-Film und die komische Seite der Politik

Signor Benigni, die Frage, was wahr ist und was eine Lüge, scheint Sie seit Jahren zu beschäftigen, erst bei Ihrem Film „Das Leben ist schön“, nun bei „Pinocchio“.

Das ist wahr. Jeder Künstler spürt eine ständige Sehnsucht zu lügen. Immer wenn Kunst entsteht, wird gelogen. Selbst Gott lügt! Wenn ein Dichter nach einem Reim sucht, folgt er nicht seinen Gefühlen. Er wendet sein Handwerk an, er geht den Pfad eines Dichters entlang. Er muss lügen!

Sie sind ein guter Lügner?

Es kommt darauf an, was Sie darunter verstehen – und vor allem, wo Sie sich gerade aufhalten. Wenn Sie in den Vereinigten Staaten sind, oh, dort nehmen die Menschen die Sache mit dem Lügen sehr ernst. Bei Kindern ist das anders: Für sie ist der Moment wichtig, wenn sie begreifen, was eine schlimme Lüge ausmacht. Pinocchios Lügen sind nicht dramatisch, es sind Notlügen. Am Ende des Films, nach den Abenteuern, die er überstanden hat, sagt er: „Ich habe aus meinen Fehlern gelernt, nun bin ich für immer ein lieber Junge.“ Das ist seine erste große Lüge.

Man kann es am Schatten erkennen, den sein Körper wirft: Dort sieht man immer noch den berühmten PinocchioHut, der ihn entlarvt.

Aber er ist nicht der Einzige, der nicht die Wahrheit sagt. Sein Vater lügt, der Lehrer, die Gesellschaft, alle lügen ihn an. Sie sagen: Wenn du brav bist, wirst du ein guter Junge, nun ja . . . Frederico Fellini, der immer seinen Pinocchio mit mir drehen wollte, sagte immer: „Robertino, vergiss nie zu lügen.“

Sie haben auf ihn gehört?

Für mich gehört Fellini in eine Reihe mit Kafka oder Heidegger. Wer bin ich, dass ich solchen Genies widersprechen würde?

Wann haben Sie zuletzt gelogen? Heute?

Oh ja, ständig. Wobei wir genau sein müssen: Zum Thema Lüge gehört, sich selbst zu widersprechen. „Behaupte heute dies und morgen das!“, ist eine wichtige Regel in meinem Geschäft. Ein bisschen Verwirrung hat noch keinem geschadet. Hier unterscheidet sich der Künstler vom Politiker, he he.

Sie können ja richtig zynisch lachen. Politiker müssen doch auch gute Lügner sein.

Politiker haben diese Kunst sehr weit entwickelt. Cavour, der Kopf der italienischen Einheitsbewegung, sagte im 19. Jahrhundert: „Ich sage immer die Wahrheit, weil ohnehin jeder denkt, dass alle Politiker lügen.“ An der Situation hat sich nicht viel verändert.

Sie haben zu Politikern ein besonderes Verhältnis. Bill Clinton sollen Sie geknutscht haben.

Ich hatte eine heiße Liebesaffäre mit ihm. Das kam so: Als Clinton Präsident war, trafen sich in Italien einmal die führenden linken Regierungschefs. Schröder war da, Blair, Jospin und eben auch Clinton. Kurz vor seinem Besuch rief er den damaligen Ministerpräsidenten Prodi an, er würde mich gerne kennen lernen, er schätze „Das Leben ist schön“. Ich wurde zum Dinner geladen, man wurde platziert – und ich stellte fest, dass man mich an den Tisch der Ehefrauen der Herren Politiker gesetzt hatte. Ich verbrachte den Abend zwischen Hillary Clinton und Cherie Blair. Am Ende sah ich Herrn Clinton, wie er mich heranwinkte. Ich bin wie bei der Oscar-Verleihung…

…als Sie über Stühle und Bänke die Bühne stürmten…

…zu ihm gerannt und habe ihn auf die Wangen geküsst. Am nächsten Tag war dieses Foto auf Seite eins der Zeitungen – und kein Bild mit Prodi oder Schröder.

Schröder haben Sie nicht geküsst?

Nein, verzeihen Sie mir das bitte!

Ist Bill Clinton ein guter Lügner?

Ich liebe ihn. Wenn er lügt, ist er wie Pinocchio: Seine Nase wächst.

Und Silvio Berlusconi?

Mamma mia, ein echter Lügner, kein guter! Auch wenn er pinocchiohafte Züge hat. Wenn die Opposition in Italien demonstriert, malen sie ihm eine lange Nase auf die Plakate.

Man wirft Ihnen vor, dass Ihr Pinocchio keine Satire auf Berlusconi geworden ist.

Ein blöder Vorwurf, entschuldigen Sie. Ich kann mich über Berlusconi im Fernsehen lustig machen, in Live-Sendungen habe ich das oft gemacht, auch wenn es gefährlich war.

Ihr neuer Film wird von einer seiner Firmen verliehen…

Kino ist Kino. Ich möchte einen Film nicht zerstören, indem ich darin einen Witz über Berlusconi mache. Jeder macht heute Witze über ihn, mir wäre das zu billig. „Pinocchio“ ist ein Klassiker der italienischen Literatur. Ich würde nie „Faust“ mit Anspielungen auf Berlusconi verfilmen, das wäre ein Frevel.

Woran merkt eigentlich Ihre Frau, die Schauspielerin Nicoletta Braschi, dass Sie lügen?

Ich kann sie nicht anlügen. Wenn ich mit meiner Frau zusammen bin, bin ich ein anderer Mann. Als ich jung war – kein Problem. Nicoletta hat mir dieses Talent genommen.

Ihr Auftritt bei der Deutschland-Premiere war ein typischer Benigni: Sie hüpften, umarmten, warfen Handküsse ins Publikum.

Ich kann nicht anders.

Ist Roberto Benigni jemals schüchtern?

Diese Auftritte sind eine einzige Demonstration meiner Schüchternheit. Das ist meine Art, diese Momente zu überleben! Ob bei der Oscar-Verleihung oder hier in Berlin, Mamma Mia, wie soll man diese Auftritte sonst überstehen? Für mich gilt, was für viele andere Menschen auch zutrifft: Je spektakulärer die Auftritte, desto größer die Schüchternheit. Ich bin ein Clown, ich kann nicht anders. Bei den Oscars schlug mein Herz so sehr, mein Körper pumpte Adrenalin, ich wollte mich befreien, loslassen, irgendetwas tun.

Diese Art des Auftritts ist ein Schutzschild.

So ist es. Der Körper spielt verrückt. Bei den Oscars wusste ich nicht, was ich tat. Ich habe kaum Erinnerungen daran. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Bühne kam, ich weiß nur, wie ich plötzlich oben auf der Bühne stand. Ein paar Tage später zeigte mir jemand ein Foto, das mich auf der Bühne mit Steven Spielberg zeigt – ich wusste nicht, dass ich diesen Moment selbst erlebt hatte.

Warum sind Sie Künstler geworden?

Als das erste Mal jemand über etwas lachte, das ich gesagt hatte, schwor ich mir: Diesen Moment will ich, sooft es geht, wiederholen. Vor kurzem starb Alberto Sordi, ein berühmter italienischer Komiker. Bei seiner Beerdigung kam es zu kilometerlangen Schlangen, ganz Rom stand still, weil die Menschen ihm die letzte Ehre erweisen wollten. Dieser Auflauf – nur für einen Komiker! Ich dachte, so etwas passiert nur, wenn ein Heiliger stirbt.

Sie sind auch ein berühmter italienischer Komiker.

Geben Sie mir noch ein paar Jahre! Bitte!

Die Schauspielerin Salma Hayek sagt, dass sie nach dem Tod eines Menschen, trotz Trauer, seine dunklen Seiten nicht vergessen kann.

Wenn Sie alt werden, sind Erinnerungen alles, was Sie besitzen. Es hilft, wenn man sich auf die schönen Seiten konzentriert. Aber die schlimmsten Erfahrungen sitzen am tiefsten. Sie holen uns ein.

Wenn Sie einmal alt werden…

…ich hoffe, ich werde nicht wie viele andere alte Künstler, die über die Welt schimpfen, über die Jugend – dieser ganze Nonsens.

Wie alt fühlen Sie sich?

Ich fühle mich genau so alt, wie ich bin. Ich bin 50 Jahre alt.

Und wie fühlt man sich, wenn man 50 ist?

Geben Sie mir ein bisschen Zeit, mich daran zu gewöhnen. Ich hatte doch erst vor kurzem Geburtstag. Ich könnte Ihnen höchstens sagen, wie man sich mit 49 fühlt.

Bitte.

Ach, lassen Sie uns über etwas anderes reden! Dieser Mythos von der Jugend als schönste Zeit im Leben… Wer sagt mir, dass ich nicht mit 52 den Höhepunkt erlebe? Als Picasso 50 wurde, sagte er: „Mit 50 fühlt man sich endlich jung, aber vielleicht ist es zu spät.“ Ich hoffe, dass der große Meister sich wenigstens in diesem Fall getäuscht hat.

Signore Benigni, der umstrittene amerikanische Star-Produzent Harvey Weinstein, bekannt für seine Tricks, kleine und große Lügen, hat Sie in den USA groß herausgebracht. Was haben Sie von ihm gelernt?

Wie jeder Mensch hat er zwei Seiten. Er kann der beste Freund auf der ganzen Welt sein, er arbeitet hart, kennt sich aus wie kein Zweiter, unterstützt dich. Über seine dunkle Seite können wir nach unserem Interview sprechen.

Das Gespräch führte Christoph Amend.

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