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Kultur: Gott sieht alles

„Canaletto und seine Rivalen“ in der Londoner Nationalgalerie

Fünf Dutzend Venedigansichten in der Londoner Nationalgalerie – das klingt wie ein gigantischer Postkartenständer in Venedigs Betonbahnhof Santa Luzia. Man ist der verführerischen Serenissima denkbar nahe. Aber eine Gondelfahrt den Canal Grande hinunter ist so ein Ausstellungsbesuch dann doch nicht, auch wenn die „Vedutisti“ ihn mit dem Pinsel besser beschrieben als irgendeinen anderen Fleck der Welt. Der Größte unter ihnen, Canaletto, konnte mit drei Strichen die Silhouette eines Hundes auf einer fernen Gondel so malen, dass man sein Bellen zu hören glaubt.

Es geht nicht um Venedig, sondern die Kunst der Malerei. Venedigansichten des 18. Jahrhunderts gehören nicht einfach wegen der faszinierenden Stadt, den Kanälen und Booten zu den teuersten Altmeistergemälden, sondern wegen des göttlichen Blicks des Vedutenmalers. Durch Einbildungskraft und penible Handwerklichkeit gelingt es, das Ferne und das Nahe, das große Panorama und das Detail, die romantische Atmosphäre und die nüchterne Wirklichkeit zu verschmelzen.

Der Betrachter wird in diesem Blick allwissend wie der liebe Gott. Mit einem Augenschlag erfasst er den architektonischen Aufriss ganzer Fassadenreihen und die Realität verfallender Mauern, aus denen Unkraut wächst. Oben scheint die ewige Sonne, unten pinkelt ein Gondoliere an die Wand. Vielleicht ist es die gleiche Faszination, die Andreas Gurskys große Digitalaufnahmen heute zu den teuersten und begehrtesten Fotos machen, die man kaufen kann: Auch sie heben uns im Blick auf das Monumentale über uns selbst hinaus und bilden doch eine völlig realistische und wiedererkennbare Welt ab.

Im großen „Bacino di San Marco“ aus Boston, dem vielleicht perfektesten der Canaletto-Bilder, scheint sich der Maler an einer Montgolfière über Venedig emporgehoben zu haben. Vor uns liegt das Becken von San Giorgio Maggiore im bezauberndsten Licht. Im „Steinmetzhof“ geht der Blick von dem vorne in den Schmutz gefallenen Töchterchen des Steinmetzen über den Bauhof, den Kanal mit den Booten, die Kirche, die Stadt in den Himmel, an dem eine dunkle Wolke aufzieht. Zum Empfang der Eremitage präsentiert sich die Republik Venedig in ihrem ganzen zeremoniellen Pomp auf der Bühne des Molo. Die Wolke, die über die Fassade des Dogenpalastes huscht, gibt dem Arrangement den Anschein einer Momentaufnahme.

Diese Wundermalerei faszinierte, vor allem die Engländer des 18. Jahrhunderts. Venedig mag in Italien sein, aber die venezianische Vedutenmalerei ist in England zu Hause. Die „Milordi“ waren die Superreichen ihrer Zeit. Auf ihrer Bildungsreise, der „Grand Tour“, war Venedig meist das Finale. Hier rüsteten sie sich auf Maskenbällen, in der Oper und in den Bordelli für die Heimreise in ihr graues Land. Sich noch eine Vedute einpacken zu lassen, meist im transportablen Kleinformat, war unverzichtbar.

Die Ausstellung zeigt, wie sich die Maler gegenseitig anregten, kopierten, eifersüchtig übertrafen, den Markt ankurbelten und die Sammler süchtig machten. „Bestelle nicht mehr bei Carlevarijs“, schrieb der Kunstberater Alessandro Marchesini 1725 an einen Kunden und empfahl ihm statt des grauen Regattenmalers den jungen Antonio Canal: „Seine Bilder sind wie die von Carlevarijs, aber man kann die Sonne darauf sehen.“ Der Sohn eines Theatermalers wurde schnell zum Star Canaletto. Der englische Konsul Joseph Smith war sein Händler und wurde der Larry Gagosian seiner Tage – 1762 verkaufte er seine Privatsammlung dem englischen König. Als 1731 der zukünftige Duke of Bedford in der Stadt war, bestellte er gleich 24 Gemälde – sie hängen immer noch im Speisezimmer der Bedfords im Schloss Woburn Abbey.

Michele Marieschi malte schneller und mit Bravour, mal mit der camera obscura, mal mit kühn ineinandermontierten Perspektiven. Die Figuren, für die er kein Talent hatte, ließ er von Kollegen einsetzen: Er wäre Canaletto mit seiner geschwinden Produktion gefährlich geworden, starb aber 1742 mit 33 Jahren. Auch Canalettos Neffe Belotto war ein ernst zu nehmender Rivale, der schnell von seinem Onkel lernte und mit starken Schatten und kühlem Licht souveräne Klarheit in die Bilder bringt. Aber 1747 reiste er, erst 25-jährig, nach Wien ab. In Dresden und Warschau verbrachte er seine besten Taten.

Canalettos letzter großer Konkurrent war Franceso Guardi. Er kopierte Canaletto, als der Meister in England weilte, um die Geschäftsflaute des Siebenjährigen Krieges zu überstehen. Aber als Guardi seinen Höhepunkt erreicht, ist der Vedutenboom beinahe abgeebbt. Guardis Blick auf Venedig ist wehmütiger, sein Pinselstrich rokokohaft-selbstvergessen, die Schlaglichter flackern wie bei den Impressionisten. Boote, Segel, Wolken und Meer treten in den Vordergrund, die Palastreihen der Stadt rücken ferner. In manchen Gemälden versinkt Venedig wie eine dünne Linie am Horizont im Meer.

Als Goethe im September 1786 nach Venedig kam, war das Jahrhundert der Vedutenmaler fast schon vorüber. Canaletto und Belotto waren tot, und das Grab des legendären Konsul Smith, das er auf der Lagune besuchte, unter Dünensand „halb verschüttet“.

London, Nationalgalerie bis 16. Januar; Katalog 19.99 Pfund.

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