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Schutzbedürftig. Figur aus Lindenholz von Gottfried Reichel.

© Käthe-Kollwitz-Museum

Gottfried Reichel im Käthe-Kollwitz-Museum: Maria auf dem Trümmerhaufen

Der Bildschnitzer Gottfried Reichel machte seine Kriegserfahrungen zu Skulpturen. Jetzt würdigt ihn das Käthe-Kollwitz-Museum mit einer Ausstellung.

Der Holzschnitzer sitzt leicht vornüber gebeugt auf seinem Schemel. Das Werkstück auf die Schürze gestützt, ein Bein nach vorne, das andere nach hinten aufgestellt und ganz in den nächsten Schnitt versunken. So porträtiert sich der erzgebirgische Kunstschnitzer Gottfried Reichel selbst. Wenn man dann in einem Film hört, wie Reichel vom Lindenholz schwärmt, es als fein, seidig und zart beschreibt, dann stellt man sich den Holzschnitzer als glücklichen Mann vor.

Tatsächlich aber hat Gottfried Reichel in seinen Figuren Traumata und Schuldgefühle der Kriegsgeneration verarbeitet. Im Käthe-Kollwitz-Museum in der Fasanenstraße werden die erzgebirgischen Holzfiguren nun in den Dialog gesetzt mit den Zeichnungen und Bronzeplastiken von Käthe Kollwitz, die neben Ernst Barlach zu den großen Vorbildern von Gottfried Reichel zählte.

Zwei Jahre als englischer Kriegsgefangener

Künstlerisch ist der Vergleich mit den monumentalen Bronzen nicht ganz fair. Denn Reichel war Autodidakt, Heimarbeiter, er orientierte sich bei der Gestaltung sichtbar an den Entwürfen anderer. Aber im Holz, das noch die Spuren der Bearbeitung mit den Händen trägt, gewinnen seine Figuren eine menschliche Nähe und Wärme.

Gottfried Reichel, 1925 in Pobershau bei Marienberg geboren, erlebte die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs als Panzerfunker in Polen und Ungarn. Am 8. Mai 1945 wurde er von den Amerikanern festgenommen. Zwei Jahre blieb er in englischer Kriegsgefangenschaft und arbeitete als Dolmetscher. Erst da, so berichtete er später, habe er von den Gräueltaten der Nazis erfahren.

Heilige Nacht im Nachkriegsdeutschland

Zurück in Pobershau wollte er andere am eigenen Erkenntnisprozess teilhaben lassen. Er begann als Lehrer in der Dorfschule, wurde aber nach wenigen Monaten entlassen, weil er sich in der Kirche engagierte. Danach verdiente er seinen Lebensunterhalt als Buchhalter in einer Pappenfabrik.

Nachzulesen ist seine Biographie in einer kleinen Broschüre, die das Museum „Die Hütte“ in Pobershau veröffentlicht hat. Das Haus pflegt den Nachlass von Gottfried Reichel, der nach seinem Tod 2015 eine umfangreiche Bibliothek hinterlassen hat und rund dreihundert Skulpturen. Figuren, gezeichnet von Leid und Schuld in hellem, zartem Lindenholz.

Für seinen Weihnachtsleuchter verlegte Gottfried Reichel die Heilige Nacht ins Nachkriegsdeutschland. Maria sitzt auf einem Trümmerhaufen, Josef hat sich einen Armeemantel um die Schultern gehängt. An Stelle der Hirten wenden sich Verwundete und Gefangene der Heiligen Familie zu. Die kantigen Gesichter, die schlichten Gewänder verleihen der Szene eine traurige Würde.

Figuren aus dem Warschauer Ghetto

Die Figuren aus dem Warschauer Ghetto schnitzte Reichel nach Fotos von Joe J. Heydecker, der später bei den Nürnberger Prozessen Bericht erstattete. Für die Gruppe „Auschwitz – Die Rampe“ dienten Gemälde von Felix Nussbaum als Vorbild – schmale, hohe Gestalten warten stoisch, für immer. In ihrer existenziellen Trauer erinnern diese Schnitzwerke an die Puppen-Gesichter der südafrikanischen Handspring Puppet Company, die die Verbrechen der Apartheid auf die Bühne bringt.

Im Käthe-Kollwitz-Museum sind auch die Werkzeuge des Schnitzers zu sehen, das Hohlmesser, der selbstgebaute Schlägel aus einer halben Kegelkugel, das Millimeterpapier für die Vorzeichnung. Zwei Künstler bewältigen hier das Gefühl persönlicher Schuld. Während sich Käthe Kollwitz in blockartigen Mutterfiguren daran abarbeitet, dass sie ihren Sohn in den Ersten Weltkrieg ziehen ließ, schnitzt Gottfried Reichel Bilder, die ihn quälten, weil er sie selber nicht gesehen hatte.

Bis 15. Januar 2017. Käthe-Kollwitz-Museum, Fasanenstraße 24, 10719 Berlin, geöffnet täglich von 11 bis 18 Uhr.

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