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Buchcover zu Thomas Pynchons Roman "Bleeding Edge".

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Thomas Pynchons New-York-Roman "Bleeding Edge": Grandios durchgeknallt

Ein unsterblicher Außerirdischer: Thomas Pynchon bastelt mit seinem jüngsten Roman "Bleeding Edge" weiter an seinem Denkmal.

Die Vorstellung, der amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon könnte ein Mensch aus Fleisch und Blut sein, hat etwas Beängstigendes. Es würde bedeuten, dass der heute 77-Jährige eines Tages aufhört, Romane zu schreiben und dass der Pynchon-Text, der seit einem halben Jahrhundert die Hirne erleuchtet und die Herzen erwärmt, einfach abbricht. Tröstlicher ist es, Pynchon für einen unsterblichen Außerirdischen oder ein sich beständig verjüngendes Autorenkollektiv zu halten, das in unregelmäßigem Rhythmus Bücher unters Lesevolk bringt. Bücher wie „Bleeding Edge“, die aktuelle Attraktion aus der Fabrik des Meisters.

Bleeding-Edge-Technologien, so klärt uns einer der durch den Roman wabernden Nerds auf, besitzen keinen erwiesenen Nutzen, sind aber mit hohem Risiko behaftet. Also in etwa wie Pynchon-Romane. Die Gefahr, so beglückt wie desorientiert aus diesen neuen 500 Seiten aufzutauchen, ist groß. Das „Tagesgeschäft“ mag transparent sein, „hat aber keine deutlich erkennbare Verbindung zur anderen Seite, zu den Hintergassen des Tages“. Und auf diesen Hintergassen treibt sich „Bleeding Edge“ herum. Mit einiger Sicherheit kann man sagen, dass die Geschichte im Manhattan des Jahres 2001 angesiedelt ist. Zu einer Zeit also, da die Dotcom-Blase soeben geplatzt ist; da New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani die Stadt mit seiner „Zero-Tolerance“-Politik aufgeräumt und die Upper West Side in ein Yuppie-Paradies verwandelt hat. Im Jahr, in dem am 11. September der Terror die Weltzeit umstellt.

Pynchons skurriles Aufgebot

Durch dieses raumzeitliche Universum lässt Pynchon mit Maxine Tarnow so etwas wie eine Hauptfigur wandeln. Die Dame ist Betrugsermittlerin, hat eine Beretta in der Handtasche und immer einen Steuertipp parat. Wenn andere shoppen gehen, geht sie zu Sensibility, einer Schießanlage für Frauen. Doch Maxine ist zugleich eine – meist – alleinerziehende Mutter zweier liebenswürdiger, zuweilen altkluger Jungs, die sich in digitalen Sphären herumtreiben und mit Egoshooter-Spielen die „Yupper West Side“ von „Yups“ befreien. Desweiteren treten auf: ein Emotherapeut mit gefälschtem Lebenslauf, eine freischaffende Webdesignerin mit Jennifer-Aniston-Frisur und ein „freiberuflicher Riecher“, der entdeckt hat, dass Hitler und Kennedy dasselbe Eau de Cologne benutzten. Dazu ein russischer Mafioso, der aus Sowjetnostalgie echte Eiscreme mit hohem Butterfettgehalt importiert, ein ziviler Schläfer des Mossad sowie ein Finsterling aus der Reagan-Ära, der Lateinamerikaner zwischen Chile und Nicaragua mit dem amerikanischen Traum vertraut gemacht hat. Das, versteht sich, ist nur eine Auswahl des wie immer ins Unübersichtliche tendierenden Aufgebots eines Pynchon-Romans.

Dass Maxine seit kurzem dezertifiziert ist, hat den Vorteil, dass ihr das Zertifikat nicht nochmals entzogen werden kann, was die Hemmschwelle senkt, sich mit hashslingrz zu beschäftigen, einer Softwaresicherheitsfirma, neben der sich Microsoft angeblich wie Greenpeace ausnimmt. Dass deren Chef Gabriel Ice, der eiskalte Sendbote, Finanztransaktionen mit dem Nahen Osten abwickelt, scheint klar. Aber ob Islamisten oder Anti-Dschihadisten finanziert werden, wer weiß das schon. Und was die versammelten Araber bei hashslingrz treiben und wer die Amerikaner sind, die auf einem Hochhausdach mit Stinger-Raketen hantieren … Nachdem amerikanische Ölinteressen diskutiert wurden, die Twin Towers bereits im Wind schwankten und Aktien von United Airlines und American Airlines massenhaft abgestoßen wurden, zeigt CNN am 11. September die bekannten Bilder. Und während die Computer-Leute den Rausch nach ihrer letzten Party ausschlafen, werden schon alle wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Szenarien durchgespielt: „unsere arabischen Brüder“, die CIA, der Mossad. Gelegentlich wird auch das Ende der Ironie ausgerufen: „Von jetzt an hat man alles wörtlich zu verstehen.“ Nur nicht bei Thomas Pynchon.

Nach 9/11 in einer Überfluss-Welt

Dass er selbst 9/11 seinem Universum aus mehrfach gestaffelten Subtexten einverleibt, hat man Pynchon natürlich angekreidet. Amerika macht weiter, Schock hin oder her: Halloween, Thanksgiving, Weihnachten – und „irgendwie endet doch alles früher oder später als Broadway-Musical.“ Warum auch sollte ein Pynchon seine poetischen Überzeugungen nachschärfen? Terror, Paranoia, die Überlappung von sichtbarer und unsichtbarer Realität sowie durchgeknallte Verschwörungstheorien waren immer schon Bestandteil seiner Welt. Einer Überfluss-Welt, in der es alles und von allem das Gegenteil gibt: drittklassige Sitcoms und die Met, Popcorn und exklusiven toskanischen Wein, Jugendfrische und Altersmilde, die ethische Relevanz der Entscheidungen jedes Einzelnen und ihre kosmische Unerheblichkeit.

Ja, Pynchon bleibt seiner gewieften Distanz-Ästhetik treu. Und zwar, indem er – trotz all der schnellen, launigen Dialoge, in denen die Maxines und Regs, die Horsts und Igors direkt zu uns zu sprechen scheinen – seinen Erzähler zwischen der Romanwelt und den Leser installiert. Immer ist die Stimme jenes Mediums hörbar, das den Pynchon-Sound ausmacht. Zu diesem Sound gehören permanente Vergleiche („wie Gloria Grahame in Oklahoma“), die alles Erzählte auch in andere Kontexte rücken und dabei ambivalent machen. Einfühlung war nun wirklich vorgestern. Was der Übersetzer Dirk van Gunsteren da wieder geleistet hat, ist schlicht phänomenal.

Thomas Pynchon hat ein Problem mit dem Kapitalismus

So wie die Upper West Side von ungezählten Musicals und Filmbildern überschrieben ist, so ist sie von Online-Welten unterkellert. Im Deep Web haben Geeks und Nerds sich unter dem Oberflächen-Web der Werbebanner und Pop-ups einen Raum geschaffen, der an Second Life erinnert: Deep Archer, also Departure – ab geht’s. Ein Raum, in dem man keine Spuren hinterlässt und in dem alles noch möglich scheint. Kein Wunder, dass Politik und Kapital verschiedenster Couleur hinter dem Quellcode her sind. Auch ohne Edward Snowden ist Pynchon klar, wie Unternehmen und politisch interessierte Mitleser jeden Mausklick tracken, um eher zu wissen, was wir wollen als wir selbst. Wie auch dieser Raum von den Logiken der Märkte besetzt und der „indizierten Welt“ angekoppelt wird, lässt zumindest vermuten, dass Pynchon noch immer ein Problem mit dem Kapitalismus hat.

Genaueres über Thomas Pynchon mögen seine Verleger und eine Handvoll anderer Leute wissen. Freilich, man kann die Sache sportlich nehmen und ihn, den großen Verschwinder, anhand von „Bleeding Edge“ und intimer Ortskenntnis von Manhattan endlich dingfest machen: Ecke Broadway und 74. Straße, im Gebäude der Apple Bank. Wichtiger dürfte sein, dass die Vermutung, er sei ein linker Moralist von außerordentlicher Intelligenz, geistiger Wendigkeit, Fabulierwut und Witz, nicht abwegig ist.

Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt 2014. 606 Seiten, 29,95 €.

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