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Dem Kontinent den Rücken. Junge Großbritannien-Enthusiasten spazieren über die Westminster Bridge in London.

© Odd Andersen/AFP

Großbritannien und der Brexit: Landlust und Ausländerfeindlichkeit in Little Britain

Die britische Regierung will am Mittwoch bei der EU den Austrittsantrag einreichen. Im Brexit zeigt sich der Traum vieler Briten von der "Englishness". Sie möchten unter sich bleiben, ohne Ausländer.

Wohl nirgends sieht England englischer aus als in Oxfordshire, Buckinghamshire oder Berkshire. Kathedralenhafte Wälder rahmen Städtchen voller Backsteinhäuser ein, in denen Shakespeare oder Charles Dickens übernachtet haben könnte. Der Rasen wirkt wie frisch gekämmt. Zu den Hobbys der Einwohner zählen Gärtnern, Gemeindefeste und Wanderungen mit dem Hund. Bis ein älterer Herr mit etwas zerknittertem Gesicht ins Bild tritt und feststellt: „Es war Mord. Oder hätte der Mann sich selbst den Schädel einschlagen können?!“

Die Krimiserie „Inspector Barnaby“, die seit 1997 in bislang mehr als hundert Folgen ausgestrahlt wurde, ist ein perfektes Stück britischer Selbstfolklorisierung. Gerne erkennen sich die Briten in den Menschen der fiktiven Grafschaft Midsomer wieder, und auch der Rest der Welt sieht sie so: zuverlässig, ironiebegabt, mitunter exzentrisch. Doch als vor ein paar Jahren der Hauptdarsteller ausgetauscht wurde, forderten Sprecher von ethnischen Minderheiten mehr Diversität. Was der Produzent ablehnte: „Es wäre nicht mehr das englische Städtchen. Wir müssen die letzte Bastion der Englishness bleiben.“

Bleiben konnte der Produzent danach nicht, er wurde gefeuert. Seither gibt es auch afrobritische und asiatischstämmige Charaktere bei „Barnaby“. Was immer noch fehlt, sind Ausländer. In den Drehbüchern tauchten bis heute nicht einmal eine rumänische Altenpflegerin auf oder polnische Handwerker, die unter Mordverdacht stehen.

EU-Ausländer nehmen Arbeitsplätze weg

Wenn die Tory-Regierung am Mittwoch in Brüssel das Austrittsgesuch des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union einreicht, folgt sie dem Wunsch ihrer Staatsbürger nach mehr „Englishness“. Bei dem Referendum im letzten Juni stimmten 52 Prozent für den Brexit. Rechtskonservative, die Ukip-Partei und andere Nationalisten hatten im Wahlkampf Stimmung gegen die drei Millionen EU-Bürger gemacht, die im Land leben. Sie würden Arbeitsplätze wegnehmen und die Sozialsysteme belasten.

In Wirklichkeit erhalten Ärzte und Pfleger mit EU-Ausweis seit Jahren das Medizinsystem der Insel aufrecht. Auch das Baugewerbe würde ohne osteuropäische Arbeitskräfte kaum noch funktionieren. Seit dem Brexit-Beschluss fühlen sich viele dieser Nicht-Briten in Großbritannien nur noch geduldet, aber nicht mehr erwünscht.

Premierministerin Theresa May, die ursprünglich für den Verbleib in der Gemeinschaft geworben hatte, hat sich im Lauf ihrer kurzen Amtszeit radikalisiert. Ihr Mantra „Brexit means Brexit“ ist ihre Version von „Tina“, dem bellend vorgetragenen Dogma der Vorgängerin Margaret Thatcher: „There is no alternative.“ Der Brexit ist alternativlos, May kann ihn sich inzwischen nur noch als Hard Brexit vorstellen, als tollkühnen Ausstieg ohne Fallschirm. Im Gegenzug für den Zugang zum europäischen Markt wird sie schwerlich – wie von Brüssel erhofft – ein Bleiberecht für EU-Bürger anbieten.

Die Ideologie des England-muss-wieder-den-Engländern-Gehören siegt über ökonomische Rationalität. Als das Oberhaus in einem Änderungsantrag zum Brexit-Gesetz die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien sichern wollte, drohten Brexit-Hardliner mit der Auflösung der 700 Jahre alten parlamentarischen Institution. So viel zum Traditionsbewusstsein in politisch umkämpften Zeiten.

"Downton Abbey" und die neue Landlust

Die Sehnsucht nach einem vermeintlich ursprünglichen Landleben, die neue Landlust drückt sich im Erfolg von Fernsehserien wie „Downton Abbey“ und „Agatha Raisin“ aus und erstreckt sich bis zu Romanen wie „Wiedersehen in Brideshead“, „Wiedersehen in Howards End“ und den Klassikern von Jane Austen oder George Eliot zurück.

„Wir alle hier in St Mary Mead sind einfache Leute, aber manchmal tun einfache Menschen die erstaunlichsten Dinge“, sagt Miss Marple. St Mary Mead, das fiktive Örtchen in der fiktiven Grafschaft Downshire, in dem Agatha Christies rüstige Ermittlerin lebt, ist eine Hauptstadt der Englishness. Viktorianische Villen treffen dort auf mittelalterliche Gemäuer. Jeder kennt jeden, der nachmittägliche High Tea gilt als heilig. Immerhin kommt in dieser Schneekugel-Welt auch ein Ausländer vor, in Form von Hercule Poirot, der in einer Geschichte für Recherchen zu Besuch kommt. Den eitlen Schnurrbartträger hatte Agatha Christie nach dem Vorbild eines belgischen Flüchtlings geformt, den sie während des Ersten Weltkriegs in Südengland traf.

Orte wie St Mary Mead oder die Grafschaft Midsomer symbolisieren Sicherheit und Abgeschiedenheit, sie sind ideale ländliche Refugien für die britische Seele. Die Globalisierung kam dort noch nicht an, endlich ist die Gegenwart wieder so, wie sie niemals war. Nämlich exklusiv, man bleibt unter sich. Ein Arkadien ohne Fremde. Das Hauptargument der Brexit-Enthusiasten lautete: „Wir müssen die Kontrolle über unsere Grenzen zurückgewinnen.“ Allerdings war diese Kontrolle niemals aufgegeben worden. Wie unerreichbar Großbritannen sein kann, wissen die Flüchtlinge aus Calais.

Großbritannien war eine sichere Zuflucht

Lange verstand sich der Inselstaat als sicherer Hafen für politisch Verfolgte. Jüdische Kinder, die vor den Nationalsozialisten in Sicherheit gebracht werden mussten, wurden genauso aufgenommen wie Dissidenten, die vorm Realsozialismus flohen. Die Stimmung kippte Ende der achtziger Jahre, als Geldstrafen für Fluggesellschaften eingeführt wurden, die Passagiere ohne ausreichende Papiere ins Land bringen. 2013 kamen 23 507 Asylanten nach Großbritannien, 0,67 pro 1000 Einwohner, deutlich weniger als im EU-Durchschnitt von 0,91.

These pumps are made for walking. Theresa May bei einer Rede.
These pumps are made for walking. Theresa May bei einer Rede.

© AFP

Zugenommen hat gleichzeitig die Fixierung vieler Briten auf eine eigene Kultur, eine eigene Identität. Es mutet kurios an, weil bereits die Bezeichnung Anglo-Saxons auf eine nationale Herkunft aus durchmischten Verhältnissen verweist. Der Ärmelkanal war nie eine unüberwindbare Grenze, nicht für Römer, Germanen, Wikinger und Normannen, die 1066 in der Schlacht von Hastings die Hausherren besiegten.

Zu den Charaktereigenschaften der britischen Nationalidentität zählt der Cricket-Historiker Dominic Malcolm „Pragmatismus, Integrität und Unabhängigkeit“. Im späten 19. Jahrhundert drückte sich die Sehnsucht nach Unabhängigkeit in der Doktrin von der „Splendid Isolation“ aus. Großbritannien verstand sich auf dem Kontinent bloß noch als Schiedsrichter, betrieb eine Gleichgewichtspolitik, verzichtete auf dauerhafte Allianzen und konzentrierte sich auf die Festigung seines Übersee-Imperiums. Der Begriff aus viktorianischen Zeiten ist wieder aktuell, etwa im „Guardian“, der die „Europäische Frage“ so formulierte: „Kommt eine Splendid Isolation oder wird es furchtbar werden?“. Wahrscheinlich würde eine strikte Isolation eher schrecklich als schön (splendid) enden. Schließlich gibt es kein Empire mehr.

Das zweite elisabethanische Zeitalter

Als Elizabeth von Windsor 1953 zur Königin gekrönt wurde, träumten viele ihrer Untertanen von einem zweiten elisabethanischen Zeitalter, in dem Künste, Wissenschaften und Wohlstand blühen. Das Gegenteil trat ein, statt Aufschwung begann der Niedergang. Die Autoindustrie verschwand nahezu vom Weltmarkt, Lebensmittel waren länger rationiert als im besiegten Deutschland, und das Empire verlor ein Land nach dem anderen an die Unabhängigkeit. Der Publizist Andrew Marr spricht in seiner „Geschichte des modernen Britannien“ von einem „Land ohne Idee“.

Der Verlust der Kolonien war ein tiefer Einschnitt, das Trauma ist noch in der Gegenwart zu spüren. Zumal das Land seine Wirtschaftskrise erst in den achtziger Jahren überwinden konnte. Fremdenfeindlichkeit formierte sich in hitzigen Unterhausdebatten über das Ausländerrecht. So beklagte sich der konservative Abgeordnete Jocelyn Lucas 1954 darüber, „dass jede beliebige Dominion oder Kolonie auf billige Art seine Kriminellen los- wird, indem sie sie hierher exportiert“. Es ging um Einwanderer aus Jamaika, der Tonfall war rassistisch. Die Labour-Kollegen Charles R. Hobson und Thomas Reid erklärten, für „diese überfüllte Insel“ sei es inakzeptabel, dass Einwanderer „ungeachtet ihrer Eigenschaften und der Wünsche der britischen Bevölkerung“ einreisen könnten.

Einst kämpfte Labour für Europa

Englands Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft begann mit einem Ja im Referendum von 1975, das Ministerpräsident Harald Wilson leidenschaftlich erkämpft hatte. Eine große Liebe wurde nicht daraus. „Von wann an lief alles schief?“, fragt „Guardian“-Journalist Mark Rice-Oxley. „Der Trend drehte sich in den 2000er Jahren, obwohl es immer noch schwer ist, genau zu sagen, warum. War es die Einwanderung? Die Wirtschaft? Elitäres Denken? Langeweile? Oder vielleicht waren auch jene besser darin, die die EU kleinredeten als jene, die sie priesen.“

Gerne zitieren die Kleinredner Verse aus Shakespeares „Richard II.“, ein Lob des Inseldaseins: „Dies Volk des Segens, diese kleine Welt, / Dies Kleinod, in die Silbersee gefasst, / Die ihr den Dienst von einer Mauer leistet, / Von einem Graben, der das Haus verteidigt / Vor weniger beglückter Länder Neid. / Der segensvolle Fleck, dies Reich, dies England.“ König Richard Reich lag allerdings zur Hälfte in Frankreich. Er war ein Europäer.

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