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Kultur: Gute Mine

Zeitgenössisches in Zechen: Die Manifesta in Belgien komplettiert als europäische Biennale den Sommer der Kunst.

Von den Wänden blättert die Farbe, der Boden besteht nur noch aus blankem Beton. Doch der Eindruck ist immer noch imposant. Hier, in diesem gigantischen Zechengebäude befand sich einst der Ballsaal der Bergarbeiter aus dem belgischen Genk. Im gleichen Bau wechselten sie werkstags ihre Kleider, um über einen hochgeständerten Gang zum Förderturm zu gelangen und einzufahren in die Tiefe der Flöze. 1986 zum letzten Mal, nach über 75 Jahren. Von der alten Pracht ist dem Art-Déco-Gebäude nur wenig geblieben, trotzdem besitzt die leere Hülle immer noch eine Aura.

Dort wo einst die Kumpel feierten, hängt nun ein riesiges Patchwork aus Stoffresten von der Ballustrade. Fünf Nähmaschinen stehen bereit, um den überdimensionalen Flickenteppich weiter zu ergänzen, die sich türmenden Haufen von Stoffresten noch zu verarbeiten. Der Chinese Ni Haifeng hat ein Monument der Handarbeit geschaffen, eine Reverenz an die Sweatshops seiner Heimat. Es wirkt aus der Zeit gefallen, denn hier in Genk gibt es längst keine Malocher mehr.

Aus der Immobilie soll ein Businesscenter werden. Zuvor aber gibt die Kunst ein Zwischenspiel. Die Manifesta, die seit 16 Jahren im Biennale-Rhythmus durch Europa (Luxemburg, Lubljana, San Sebastian, Tirol) wandert, macht in diesem Sommer im Nordosten Belgiens in der Provinz Limburg Station. Gegründet nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, erkundet die Großausstellung die sich wandelnden Bedingungen eines neuen Europa. In Genk hat die 9. Manifesta vor dem Hintergrund von Euro- und Finanzkrise ihre perfekte Spielstätte gefunden: Hier zeigen sich der Strukturwandel und seine dramatischen Folgen im Herzen des Kontinents.

Ohne den Bergbau würde es das 65 000 Einwohner zählende Städtchen nicht geben. 1901 wird in der unbesiedelten Heidelandschaft Steinkohle entdeckt, ein Boom setzt ein, von dem heute nur noch die Industrieruinen erzählen, sofern sie nicht aus Sicherheitsgründen abgerissen wurden. Wirtschaftlicher Aufstieg, Niedergang der Region, politische Brüche, Suche nach einer neuen Identität – das sind die Motive jeder Manifesta. In Genk werden sie an einem einzigen Begriff durchdekliniert: der Kohle. Dieser Urstoff faszinierte seit die Künstler seit jeher. Die von dem Kuratorentrio – dem Mexikaner Medina Cuauhtémoc der Griechin Katerina Gregos und der Britin Dawn Ades – eingerichtete Schau, die sonst oft Superlative bemüht, übt sich in Bescheidenheit: Es gibt nur einen einzigen Ort, die spektakulären Überbleibsel der Waterschei-Mine, und nur das eine Thema, um in diesem Sommer der Großausstellungen klare Konturen zu bieten.

Das Konzept geht auf. Hier wird nicht platt politisiert wie bei Artur Zmijewski auf der Berlin-Biennale oder philosophiert wie bei Carolyn Christov-Bakargievs Documenta in Kassel, sondern konzis abgearbeitet, wenn auch an manchen Stellen vorhersehbar. „The Deep of the Modern“ lautet der Titel der Tiefenbohrung, die mit zeitgenössischer Kunst das postindustrielle Zeitalter sondiert und darüber hinaus Kunstgeschichte und Volkskunde befragt. Der Weg führt durch verschiedene Stollen, doch immer zum gleichen Ziel: einer Darstellung der Bedingtheiten des Lebens im Schatten der Mine, mal mehr, mal weniger drastisch. Empathie lässt sich auf verschiedene Arten erzielen, etwa mit einer Galerie der gestickten Sinnsprüche, wie sie sich in der guten Stube eines jeden Bergarbeiterhaushalts befanden und nun als kostbare Objekte in der leeren Werkhalle hängen. Oder mit Christian Boltanskis aufgetürmter Blechdosenwand, an der vorne die Gesichter von 3000 Kumpeln der ebenfalls geschlossenen Zeche Grand-Hornu in Wallonien aufgeklebt sind.

Welch starke Ausstrahlung allein ein Kohlesack besitzt, das wusste schon Marcel Duchamp. Für die Internationale Surrealisten-Ausstellung 1938 in der Pariser Galerie des Beaux-Arts hängte er 1200 solcher Säcke dicht an dicht unter die Decke, um die reinliche Ordnung eines Kunstortes zu desavouieren. In Genk wurde diese frühe Form der modernen Rauminstallation nun rekonstruiert. Ein historisches Zitat, mit dem allerdings Eulen nach Athen getragen werden – es kann seine Wirkung nur verfehlen. Auch Marcel Broodthaers wirkt wie ein Pflichtprogramm. Der große belgische Konzeptkünstler, der seiner Heimat in Hassliebe verbunden war, benutzte nicht nur Miesmuscheln, Fritten und Eierschalen für seine aberwitzigen Arrangements, sondern auch Kohle. Drei Häuflein finden sich unter einer Vitrine aufgetürmt, im mittleren steckt ein schwarz-rot-goldenes Fähnchen.

Die Manifesta ist dort eindrucksvoll, wo sie den Blick weitet und nicht ein besseres Heimatmuseum mit intellektuellem Anspruch sein will. In den kathedralenartigen Räumen beschert sie immer wieder überraschende Momente, etwa wenn der Besucher spielerisch die kleine piepsige Drehorgel des Kroaten Nemanja Cvijanovic mit der Melodie der „Internationalen“ betätigt. Erst später begreift er, dass er mittels Übertragung ein Stockwerk tiefer einen gewaltigen Sound ausgelöst hat.

In den heruntergekommenen Hallen der Waterschei-Zeche haben die alten Ideologien ohnehin ausgespielt. Sie wecken nur noch nostalgische Gefühle. Wie wenig unsere bisherige Weltordnung noch funktioniert, zeigt Paolo Woods Fotoserie „Chinafrica“. Er porträtierte chinesische Geschäftsleute in Afrika, die heutigen Kolonialisten, etwa den stolzen Bauunternehmer im lässig aufgeknöpften Hemd, umgeben von schwarzhäutigen Arbeitern, die scheu in die Kamera blicken. Belgiens sozioökonomische Verschiebungen erscheinen dagegen eher gering. Zugleich besitzt die Manifesta jedoch eine Leichtigkeit, die man angesichts der Schwere ihres Grundmaterials kaum erwartet hätte. Der Belgier Ante Timmermans gewinnt mit seinem „Maulwurfhügel“ der Melancholie des Orts eine gewisse Heiterkeit ab, indem er einem modernen Sisyphos gleich Tag für Tag leere Seiten mit einem Locher stanzt und das gewonnene Konfetti zu einem weißen Berg anhäuft – Hommage an all jene Bergleute, die sich durch das Erdreich bohrten und ebenfalls Halden hinterließen.

Schwarz enthält viele Farben: Das zeigt Ana Torfs Installation, die an die Gewinnung synthetischer Farben als Abfallprodukt in der Kokerei erinnert. Malwe, Indigo-Blau und Kongo-Rot gehören heute zu jeder Palette. Nach der Kohle kommt die Kunst, nach der Kunst kommen die Computer der Start-up-Unternehmen, die in das Zechengebäude nach der Manifesta einziehen werden. Für Genk markiert die Großausstellung einen Neuanfang. Die Wanderbiennale wird derweil weitergezogen sein, voraussichtlich in den Norden. Auch dort hat Europa so seine Probleme.

Manifesta, Genk, bis 30. September. Infos: www.manifesta9.org

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