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Umkämpfte Heldin. Statue der griechischen Göttin Athene in Athen, nach einer Demonstration von Tränengas umhüllt.

© dpa

György Dalos bei der Europäischen Schriftstellerkonferenz: Alte Träume, neue Mauern

In seiner Rede beim Europäischen Schriftstellerkongress in Berlin sprach György Dalos von der bedrohten Freiheit des Kontinents - und von den Erinnerungen an ein West-Berliner Schriftstellertreffen im Jahr 1988.

Die Erinnerung an die Konferenz „Ein Traum von Europa“ verbindet sich bei mir mit zwei Terminkollisionen. Im Dezember 1987 erhielt ich die Einladung zu den 15. Römerberggesprächen, deren Thema in einer ahnungsvollen Frageform angegeben wurde: „Dankt das geistige Europa ab?“ Auf der Teilnehmerliste standen Namen wie Melina Mercouri, Gordon Craig, Max Frisch, Günter Grass, Valentin Falin, Christa Wolf und Umberto Eco. Angesichts der noblen Gesellschaft fühlte ich mich geschmeichelt wie ein Laienschauspieler aus der ungarischen Provinz, der plötzlich an der Oscar-Gala teilnehmen darf, und sagte zu. Ich hatte nur vergessen, dass mir schon die Einladung zu einer Berliner Konferenz vorlag, deren Projektpapier auch voller Fragen war: „Lässt sich die Teilung Europas überwinden? Besteht überhaupt der Wunsch nach Überwindung dieser Teilung? Wie könnte ein Europa aussehen, das sich aus der Zwangsjacke von Jalta befreit hat?“

Ich entschied mich für Berlin, entschuldigte mich in einem schamroten Brief vor den Römerbergern und fühlte mich wie die zum Körper gewordene Untreue. Aber die dramatischere Terminkollision stand noch bevor.

Einige Tage vor der Eröffnung der Konferenz in der West-Berliner Kongresshalle fand in Budapest die Konferenz der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei statt, bei der János Kádár, der Generalsekretär, abgelöst wurde. Offensichtlich war auch der ORF davon beeindruckt, als er mich bat, nach Wien zu kommen und unter dem Titel „Es muss nicht immer Kádár sein“ das Ereignis zu kommentieren. Die Sendung sollte am 26. Mai um 22 Uhr beginnen, während mein Berliner Auftritt tags darauf um 15 Uhr anberaumt war.

So flog ich über München nach Wien, verteidigte dort die Zulassung des Mehrparteiensystems und trat am nächsten Morgen den Rückweg an. Beim Umsteigen ereilte mich in München das Schicksal in Gestalt der Flugsicherung: Mehr als 20 Flüge wurden gestrichen, darunter zwei nach Tegel. So erreichte ich das Haus mit Mühe und Not um halb vier nachmittags – das Podium war gelaufen. Mein Beitrag wurde auf Sonntag verlegt.

Mitschuld an meinen Fehlleistungen trug eine außergewöhnliche Situation. Als ich im Mai 1987 das Donauschiff nach Wien bestieg, um der süßen Heimat vorläufig zum Abschied zu winken, besaß ich eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung der ungarischen Behörden als Arbeitnehmer, der einen Teil seines Gehalts über die Nationalbank in Westwährung nach Hause schicken sollte. Zu diesem Zweck besorgten mir Wiener Freunde eine fiktive Arbeitseinladung. Für die österreichischen Behörden galt ich wiederum als unversicherter Tourist und musste meine Aufenthaltserlaubnis regelmäßig bei der Fremdenpolizei verlängern. Wieder mit Freundeshilfe mietete ich eine winzige Wohnung in einem Gemeindehaus der Stadt Wien. Meine Geldinstitute in Österreich und Deutschland gewährten mir keine Kreditkarte, sondern nur je ein Scheckheft, wobei auf jedem deutschen Scheck ein Stempel mit der Bezeichnung „Gebietsfremder“ stand. In Österreich galt ich nur als „Devisenausländer“. So begann mein wildes Leben in der freien Welt.

Es gab einen viel kürzeren Weg nach Berlin – über Schönefeld. Doch aufgrund meiner Kontakte zur ostdeutschen Dissidentenszene hatte ich mir ein absolutes „DDR-Verbot“ eingehandelt. Eine Besserung dieser Situation war mir nicht anders vorstellbar als durch die „Überwindung der Jalta-Ordnung“, wie sie György Konrád 1982 bei der Gründungsversammlung der Gruppe Ost-West-Dialog gefordert hatte.

Je eindeutiger die Krisenzeichen in den Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrags hervortraten, desto zwingender wurde der Wunsch, selbst die nahe Zukunft im Rahmen eines europäischen Projekts zu suchen. Eine besondere Rolle kam der Reisefreiheit zu. Bezeichnenderweise kamen unter den ostmitteleuropäischen Gästen nur die Polen und Ungarn mit einem legalen Reisepass an. Die Literatur der UdSSR, der CSSR, Rumäniens und Bulgariens wurde durch Exilautoren wie Lew Kopelew oder Jiri Grusa vertreten, die DDR durch den ausgebürgerten Jürgen Fuchs. Ohnehin wirkte der Genius Loci: Kaum ein Jahr zuvor hatte Ronald Reagan hier gestanden und Michail Gorbatschow aufgefordert: „Reißen Sie die Mauer nieder!“.

Die Ukraine vor einem Krieg - und alle reden von Hoeneß

Während einer internen Sitzung im Literaturhaus schlug Konrád Ähnliches vor. Man solle, sagte er, Gorbatschow in einem Offenen Brief fragen, für wie viel Geld er bereit sei, die Grenze mitten in der Stadt wegzuräumen. Fast alle Anwesenden schüttelten den Kopf – auch ich blieb skeptisch. Selbst die Überwindung der abstrakten Jalta-Ordnung erschien mir wahrscheinlicher als die Aufgabe der konkreten Mauer. Dabei lebten wir in jenen warmen Frühsommertagen 1988 bereits in einer neuen geschichtlichen Phase. Die radikalen Geschehnisse in der Sowjetunion beschleunigten die Entwicklung in Polen und Ungarn. Aber dass uns kaum anderthalb Jahre von der Maueröffnung, 14 Monate von den freien Wahlen in Polen und dreieinhalb Jahre von der Auflösung der UdSSR trennten, daran dachten wir nicht einmal in unserem europäischen Traum.

26 Jahre später, an einem lauwarmen Märzabend, gab ich meine langjährige Fernsehabstinenz vorübergehend auf. Ich wollte im „Heute-Journal“ Bilder aus der Ukraine sehen, aber zu meinem Ärger dominierte den ersten Nachrichtenblock die Affäre um Uli Hoeneß. Ging es nicht darum, dass ein Staat mit bewaffneten Kräften auf dem Territorium eines anderen Staates erschien und Bezug nehmend auf die dortigen internen Konflikte ein Gebiet von 26 000 Quadratkilometern mit zwei Millionen Einwohnern unter seiner Ägide brachte? Die Bilder, die an zweiter Stelle nach den Interviews zur Frage der Steuerhinterziehung folgten, machten jeden ehrlichen Osteuropäer älteren Jahrgangs wetterfühlig. Kein Scherz: Ob und inwieweit die Krim den Ukrainern, Russen oder Tataren gehört, darüber ließe sich lange streiten, aber dass sie geistig und kulturell zu Europa gehört, war für mich immer ein Axiom.

Dabei handelt es sich vordergründig um einen Familienstreit: Die ukrainische Kultur ist von der russischen durchdrungen – Gogol, Tschechow, Bulgakow sind nur die wichtigsten Namen, welche diese Wechselwirkung belegen. Fast jeder Ukrainer spricht Russisch, beide Völker verbindet die erlebte und erlittene sowjetische Tradition. So posteten ängstliche Blogger in diesen Tagen auf beiden Seiten der unsicher gewordenen Grenze dasselbe Lied: „Meinst du, die Russen wollen Krieg?/ Befrag die Stille, die da schwieg/ im weiten Feld, im Pappelhain,/ Befrag die Birken an dem Rain./ Dort, wo er liegt in seinem Grab,/ den russischen Soldaten frag!“

Diesen auf einen Text von Jewgenij Jewtuschenko, eines Lyrikers mit ukrainischen Wurzeln, komponierten Weltschlager habe ich als Student der Moskauer Universität am Vorabend der Kubakrise im Herbst 1962 zum ersten Mal gehört. Im weichen Timbre des russisch-ukrainischen Sängers Mark Bernes klang er völlig pazifistisch, gab persönliche Gefühle von Millionen Sowjetbürgern wieder und trug gleichzeitig zum positiven Image der UdSSR maßgeblich bei. Hierzu gehörte auch, dass die sowjetische Supermacht damals bereit war, um den gebrechlichen Frieden zu retten, ihre Raketen aus der Karibik abzuziehen.

Die Altersschwäche derselben Supermacht erlaubte in den späten achtziger Jahren die Wiedergewinnung der Souveränität und die europäische Orientierung ihrer Anrainerstaaten. Allerdings bedeutete dies keine automatische Integration in die EG und später EU. Allein das Klopfen an deren Tür dauerte für die ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrags und der baltischen Republiken 14 beziehungsweise 17 Jahre. Selbst nach der Ost- und Süderweiterung liefen die Uhren ungleich, wie übrigens in der gesamten Union: Niederlande und Portugal, Schweden und Griechenland waren und blieben nicht nur verschiedene Länder, sondern auch verschiedene Welten.

Außerdem betraf die Abschaffung der Jalta-Ordnung, die Kernidee der Konferenz vom Mai 1988, eine Reihe von Nationen, deren Schicksal im Februar 1945 von Stalin, Churchill und Roosevelt unerörtert blieb, in keiner Weise. Die meisten Länder, unter ihnen Moldawien, Armenien, Georgien, Belarus und eben die Ukraine, konnten sich das Leben außerhalb ihres festgefügten Staates nicht einmal vorstellen. Nicht alle stehen auf der Kandidatenliste der EU, aber in jedem dieser Länder bleibt Europa für große Teile der Öffentlichkeit eine Realutopie.

Inzwischen hat sich Russland vom Zerfall des von ihm dominierten Imperiums erholt und möchte durch Aktionen wie auf der Krim zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: entlang der eigenen Grenzen einen cordon sanitaire aus abhängigen Staaten errichten und soziale Spannungen im eigenen Lande durch einen patriotischen Aufbruch eindämmen – alte Kamele der Großmachtpolitik. Vieles an diesem Vorhaben ist reiner Bluff, denn die Restaurierung der früheren Einflusszone, inklusive Schaffung neuer Grenzen, hat auch natürliche Grenzen: Weder in der Ukraine noch anderswo kann Russland ökonomische geschweige denn politische Stabilität garantieren.

Dasselbe lässt sich leider auch über die andere, unsere Seite sagen. Offenbar sieht sich die EU außerstande, den ehemaligen Sowjetrepubliken ein reales Angebot der Integration zu machen. Daher beschränkt sich die westliche Welt auf vorsichtig dosierte Sanktionen, aufgeregte Telefonanrufe und rhetorische Proteste. Die Politiker sind selbst innerhalb ihrer Regierungen uneinig und befinden sich am Ende ihres Lateins. Wenn es aber so ist, dann bitte keine Illusionen! Dann möge man bitte auch die Öffentlichkeit auf harte Arbeit vorbereiten. Druck, Diplomatie und Unterstützung der zivilen Kräfte gehören dazu. Vielleicht gäbe es dann einen ukrainischen oder russischen György Konrád, der die Frage stellen würde: „Herr Putin, für wie viel Geld wären Sie bereit, die neu errichtete Mauer zwischen Ost und West abzubauen?“

Der Schriftsteller und Publizist György Dalos, 1943 in Budapest geboren, eröffnete am gestrigen Donnerstag mit dieser – hier gekürzten – Rede die Europäische Schriftstellerkonferenz im Atrium der Alfred Herrhausen Gesellschaft. Sie wird heute mit einem Symposion fortgesetzt. Mehr unter www.europatraumundwirklichkeit.eu

György Dalos

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