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Cover von Ha Jins Roman "Verraten"

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Ha Jins Roman: "Verraten": Mein größter Gegner ist das Heimweh

In „Verraten“ erzählt Ha Jin die Geschichte eines chinesischen Maulwurfs bei der CIA. Der Roman ist zugleich eine Chronik der jüngeren Geschichte Chinas.

Lilian Shang, Geschichtsprofessorin in den USA, macht kurz nach der Jahrtausendwende eine spektakuläre Entdeckung: Ihr Vater Gary Shang war der „bedeutendste chinesische Spion, der je in Amerika verhaftet wurde“. Fortan werden die eigene Familiengeschichte und die Erkundung von Garys Leben zu ihrem primären Forschungsgegenstand. Wer nun aber einen Thriller mit Action-Szenen und konspirativen Dialogen erhofft, wird von Ha Jins Roman „Verraten“ enttäuscht sein. Er unterläuft solche Erwartungen konsequent.

Gary Shang, seit dem Koreakrieg Chinas Mann in Amerika, betreibt die Agententätigkeit wie andere die Aquaristik: mit einer stillen Passioniertheit, die sich auf unbeteiligte Zuschauer kaum überträgt. Die Qualitäten dieses Maulwurfs bei der CIA sind nicht Schießereien, sondern das korrekte Bedienen des Kopierers und der Kamera. Dank seiner Freundschaft zum Leiter der Ostasien-Abteilung der CIA kommt er an immer wichtigere Dokumente, und er macht seine Arbeit so gut, dass schließlich sogar Mao begeistert ist: Shang sei so viel wert „wie vier bewaffnete Divisionen“.

Shangs Aktivitäten werden so referiert, wie er sie erledigt: beiläufig. „Die Informationen, die er diesmal geliefert hatte, waren von unschätzbarem Wert“, heißt es dann knapp, worauf sich der Roman wieder ausgiebig dem zerrissenen Privatleben des wider Willen zum Politikum gewordenen Mannes widmet. Hier bekommt es Shang mit einem besonders hartnäckigen Gegner zu tun: dem Heimweh. Zur Familie in China, zu Eltern, Ehefrau und Tochter, darf er keinen Kontakt mehr haben. Er ist auf die Berichte seines Verbindungsmannes in Hongkong angewiesen. Schließlich wird ihm geraten, eine neue Familie in den USA zu gründen. Er heiratet Nellie; aus der heiklen Beziehung geht Lilian hervor. Auf einem anderen Kontinent mit einer anderen Frau ein anderes Leben zu führen, ist für Gary Shang mit seiner verzehrenden China-Sehnsucht keine Erfüllung. Mit der tarnenden Liebe zur Countrymusik macht er sich auch die bittere Schwermut von Hank Williams zu eigen: „No matter how I struggle or strive / I’ll never get out of this world alive.“

„Chinas Ohr, das den Herzschlag der Vereinigten Staaten abhört“

Maos Politik verfolgt Shang irritiert und kann manche Absurditäten aus der Distanz kaum begreifen. Verzweifelt versucht er an Informationen zu kommen, wie es seiner Familie zur Zeit des „Großen Sprungs nach vorn“ ergeht – jenem Inferno um 1960, das etwa 30 Millionen Menschenleben kostete. „Es verwunderte ihn, dass die Katastrophe so wenig internationales Aufsehen erregte.“ Befremdet nimmt er auch zur Kenntnis, dass Mao, den er einmal als „größte Plage Chinas“ bezeichnet, bei den amerikanischen Studenten der Achtundsechziger-Ära zum Idol wird. Das Ende seiner Karriere als „Chinas Ohr, das den Herzschlag der Vereinigten Staaten abhört“, trägt die Züge einer Farce. Shang fliegt auf, als er sich aus China als Dank für seine „unschätzbaren Verdienste“ 70 000 Dollar überweisen lässt, um seiner Frau mit dem Kauf einer Bäckerei die berufliche Selbstständigkeit zu ermöglichen.

Zwar leidet er darunter, dass manche seiner Informationen (etwa über CIA-Agenten in China) zu Verhaftungen und Hinrichtungen führen. Aber das wird kompensiert durch seine Selbsteinschätzung, er habe entscheidend zur Annäherung von China und Amerika beigetragen und geholfen, einen verheerenden Krieg zu verhindern. Er sei kein Verräter, sondern habe sich sowohl gegenüber China wie den Vereinigten Staaten loyal verhalten. Diese Legitimation nahm auch das reale Vorbild der Figur für sich in Anspruch, der Doppelagent Larry Wu-Tai Chin, der ebenfalls als Übersetzer bei der US-Army begann und 1986 in seiner Zelle Selbstmord beging.

Ha Jin erzählt Chinas Geschichte

Regelmäßig wechseln Kapitel über Lilians Vater-Recherche mit der chronologischen Erzählung von dessen Leben. Dieser Strang zeichnet zudem die chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts nach, während die eher blasse Lilian-Figur dazu dient, Beschreibungen des heutigen China in den Roman hineinzumoderieren: „Es war nicht zu übersehen, dass es im chinesischen Wirtschaftswunder auch Verlierer gab.“ Oder: „Ich wusste, dass die Schadstoffbelastung von Lebensmitteln in China ein Problem war.“ Solche Sätze bleiben weit zurück hinter der surrealen Kraft und dem Ekel, mit denen Liao Yiwu in „Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch“ die chinesische Gegenwart im Allgemeinen und die Lage der dortigen Gastronomie im Besonderen darstellt.

Ha Jin, 1956 in Nordchina geboren, ging 1985 zum Studium in die USA. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz entschloss er sich zu bleiben und gehört heute, auf Englisch schreibend, zu den wichtigen Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Sein Roman empfiehlt sich als klischeefreie Darstellung eines Spions und als Chronik der jüngeren chinesischen Geschichte. Allerdings hat Ha Jin in seinem poetologischen Essay „Der ausgewanderte Autor“ von der Literatur mehr als solche Berichtspflichten gefordert: Formbewusste „Alchemisten historischer Erfahrungen“ sollten die Schriftsteller sein. Diese Verwandlung des Historischen ins Kunstwerk ist in „Verraten“ nicht vollgültig geglückt.

Ha Jin: Verraten. Roman. Aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck. Arche Verlag, Zürich 2015. 368 Seiten, 22,99 €.

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