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Szene aus „Dona Nobis Pacem“

© Kiran West

Hamburg Ballett: Finale für John Neumeier

Choreograf John Neumeier läuft mit der Uraufführung von „Dona Nobis Pacem“ auf die Zielgerade seiner 51-jährigen Karriere beim Hamburg Ballett ein.

Von Falk Schreiber

Leicht macht es sich John Neumeier nicht. Der mittlerweile 83-jährige Intendant des Hamburg Ballett hätte zum Ende seiner langen Karriere auch ein gefälliges Stück Neoklassik choreografieren können, mit nachvollziehbarer Handlung, schönen Tänzerkörpern, ausgesuchter Musik. Und jetzt das: Zu Beginn von „Dona Nobis Pacem“ stürzt Louis Musin auf die Bühne, bei hellem Saallicht, ohne Orchesterklang. Er stürzt, er stolpert, er fällt, ein sterbender Soldat, der es vom Schlachtfeld in eine ruhige Ecke geschafft hat. Und erst dann ist das Vokalensemble Rastatt im Orchestergraben zu sehen, erst dann erklingen die ersten Bach-Klänge durch das Ensemble Resonanz, kraftvoll dirigiert von Holger Speck. Bis dahin: Stürzen. Keine Neoklassik, sondern hartes Zeitgenossentum.

Neumeier ist seit 1973 Ballettdirektor und Chefchoreograf an der Hamburgischen Staatsoper, seit 1996 ist er Intendant am seither eigenständigen Hamburg Ballett - und hat quasi im Alleingang die Hansestadt zur ersten Adresse in der Tanzwelt gemacht, mit handwerklicher Präzision, mit szenischer Phantasie, aber auch mit der Fähigkeit, ein Ensemble zu formen, das seinesgleichen sucht. 2024 wird er nach dann 51 Jahren die Leitung an Demis Volpi abgeben, „Dona Nobis Pacem“, sein Opus 172, ist als seine letzte große Premiere angekündigt – allerdings stammt diese Ankündigung noch aus Zeiten, in denen angenommen wurde, dass die Ära Neumeier 2023 enden würde, da Volpi aber erst ein Jahr später zur Verfügung steht, wird kommende Saison noch eine Zwischenspielzeit stattfinden.

Neumeier arbeitet weiterhin mit heiligem Ernst

Aber ob da noch bedeutende Arbeiten kommen? „Dona Nobis Pacem“ jedenfalls ist als Höhe- und Schlusspunkt konzipiert, als Stück, das die Qualitäten (und auch die Schwächen) des Choreografen auf den Punkt bringt. Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll erzählt keine Geschichte, entsprechend will der Abend als „ethische Sammlung choreografischer Bilder“ verstanden sein. Um dann eben doch narrativ zu funktionieren: als Geschichte vom Wanderer, der durch die Zeitläufte irrt, der Krieg erlebt und Zerstörung, und der am Ende, erschöpft und durch die Mangel gedreht, Erlösung findet. „Dona Nobis Pacem“, die letzte Passage der Messe, heißt „Gib uns Frieden“, und es fällt schwer, so eine Aussage nicht auch auf diese Choreografenkarriere anzuwenden.

Zu Beginn seiner Hamburger Zeit galt Neumeier nach ersten Erfolgen in Stuttgart und Frankfurt als Bilderstürmer, der das klassische Repertoire mit unerhörten Neuerungen konfrontierte. Später lief seine Arbeit immer wieder Gefahr, im Klassizismus zu erstarren. Zuletzt, nach einer quälend langen Nachfolger-Suche, standen auch noch Rassismus-Vorwürfe im Raum: Als die 1985er-Choreografie „Othello“ in Kopenhagen einstudiert werden sollte, hatten Tänzer*innen Probleme mit in ihren Augen klischeehaften Darstellungen, in der Folge wurde die jahrelange, erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem Hamburger Choreografen und dem Kongelige Ballet auf Eis gelegt.

Es ist also ein Bekenntnis, wenn Neumeier über „Dona Nobis Pacem“ sagt: „Ich bin überzeugt, dass auch mein Glaube, meine persönlichen Zweifel und meine Zerrissenheit untrennbar zu meiner Persönlichkeit gehören.“ Zerrissenheit, die Aleix Martinez in beeindruckender Bühnenpräsenz zeigt, ein Tänzer, der seinen Körper in atemberaubende Verrenkungen versetzen kann, und dennoch nicht mit wuchtiger Physis überzeugt, sondern sich Zerbrechlichkeit und Sensibilität bewahrt.

Allerdings: Neumeier, der oft auch noch für kleinste Nebenrollen prägnante Körpersprachen entwickeln konnte, schafft es diesmal nicht, neben Martinez weitere Tänzer*innenpersönlichkeiten zu Höchstleistungen zu bringen. Selbst Spitzenkräfte wie Anna Laudere, Ida Praetorius oder Edvin Revazov verschwinden im Corps de Ballet. Und dass sie hier freundlich aufgenommen werden, beweist die Qualität des Ensembles, dass sie sich aufnehmen lassen. Beweist, wie uneitel sich hier auch Stars der Sache unterordnen.

Uneitel ordnen sich die Tanzstars unter

Und dann eben: der heilige Ernst der Choreografie. Neumeier war nie ein großer Ironiker, so humorlos, wie mit „Dona Nobis Pacem“, zeigte er sich aber noch nie, und der (früher zeitweise erkennbare) queere Charakter des Balletts scheint ebenfalls verschüttet. Stattdessen Sinnsuche, Zerrissenheit, Grüblertum.

Allerdings in Perfektion. Ästhetisch funktioniert das: die von Neumeier selbst gestaltete Ausstattung, ein tiefer, abstrakter Raum, in den Kriegsszenen ein Betonbunker, später ein brutalistischer Siebzigerjahre-Kirchenbau. Die auf den Punkt choreografierten Massenszenen. Das Herzblut des Choreografen, das man in jedem Bild spürt. Und dass der Abend trotz dieser Perfektion unrund ist, das passt dann vielleicht auch zum Konzept. Weil ein reiches Leben nicht rund ist, weil ein reiches Leben schmerzt und sich nur mit Mühe über die Ziellinie rettet. Wo Erschöpfung wartet und Erlösung. Gib uns Frieden.

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