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Blutspur. 2009 ließ die Kolumbianerin Maria Jose Arjona bei ihrer Performance „Remember to Remember“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt blutige Seifenblasen aufsteigen. Sie färbten ihren Kittel rot und hinterließen einen Farbstreifen auf den Wänden – als habe dort gerade ein Erschießungskommando gewütet.

© Ted Hartshorn / Courtesy the artist

Haus der Kulturen der Welt: Die Welt vor der Tür

Viele Künstler und Intellektuelle erweisen sich im Nachhinein als präzise Seismografen der aktuellen Erschütterungen. Was bedeuten Ereignisse wie in Japan oder Libyen für die Kulturvermittlung?

Gerade rieben wir uns noch freudig die Augen, als die Tunesier und Ägypter ihre Potentaten stürzten. Kurz darauf fielen wir in Schockstarre angesichts der Katastrophen in Japan, die uns die Fragilität der Nukleartechnologie vor Augen führen. Beide Ereignisse fanden in großer Ferne statt und haben doch Rückwirkungen auf unsere Gesellschaft. In der arabischen Welt wird Geschichte geschrieben, und das Geschehen in Japan hat Folgen auch für die Nutzung der Kernkraft in Deutschland.

Was bedeutet das für eine Institution wie das Haus der Kulturen der Welt? Am 21. Januar, wenige Tage nach der Vertreibung Ben Alis und kurz vor Beginn der Revolution in Ägypten, hatte das HKW zum Forum „Deutschlands Muslime und europäischer Islam“ geladen. Über tausend muslimische und nicht muslimische Berliner Bürger machten in einer kontroversen Diskussion über die Kopftuchfrage, Nachbarschaften, Bildungsmöglichkeiten und Zukunftschancen deutlich, welches Potenzial eine plurale Gesellschaft birgt. Über Handy verfolgte man gleichzeitig die Ereignisse in der arabischen Welt, in der sich gerade der Wille zur Selbstbestimmung Bahn brach. Wir konzentrierten uns auf die deutsche Situation und sahen uns plötzlich mit den Revolutionen südlich des Mittelmeers konfrontiert.

Viele Künstler und Intellektuelle, die wir in den letzten Jahren als Gäste begrüßen konnten, erwiesen sich im Nachhinein als präzise Seismografen der aktuellen Erschütterungen. Während der Westen das Gespenst der Gotteskrieger vor Augen hatte, sah eine intellektuelle Aktivistin wie Radwa Ashour bereits 2007 (im Projekt „Di/Visions“) Ägyptens Probleme weniger in den islamistischen Positionen der Muslimbrüder als im korrupten Staatswesen. „Neben den wirtschaftlichen Nöten und der drückenden Enge im Alltag müssen die Ägypter auch mit einem kollabierenden Bildungswesen, einer bröckelnden Gesundheitsvorsorge, einer korrupten Verwaltung und einer teils offenen, teils versteckten politischen Unterdrückung fertigwerden,“ sagte sie. Sie schilderte auch den politischen Kampf verschiedenster Gruppen, die wegen ihrer Zersplitterung jedoch keine Durchschlagkraft entfalten konnten.

Bestandteil einer neuen globalen Kultur sind die Jugendforen im Netz. Auf Youtube und anderswo setzen sich rappende Jugendliche mit ihrem urbanen Umfeld auseinander und wenden sich so weniger an die verkrusteten Führungseliten in ihren Ländern als an Jugendliche in anderen Teilen der Welt, wie wir im Herbst 2008 im Projekt „In der Wüste der Moderne“ lernen konnten. Die dynamischen, demografisch wichtigen Teile arabischer Gesellschaften lassen sich längst nicht mehr ins Korsett nationaler Propagandamaschinerien zwängen.

Gleichwohl kontrollierten die Machtapparate jedwede Form von politischer Artikulation. Was ihnen gefährlich werden konnte, unterdrückten sie mit brutaler Gewalt, der sich die Bevölkerung ohnmächtig ausgesetzt fühlte. Aber das Ohnmachtsgefühl verwandelte sich zunehmend in Wut – überall dort, wo sich Menschen ihrer Zukunftsperspektive beraubt sahen. Darum ging es unter anderem in der HKW-Ausstellung und Veranstaltungsreihe „Über Wut“ im Frühjahr 2010.

Es war auch Wut, die Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 veranlasste, sich selbst anzuzünden. Der junge Tunesier hatte nach seinem Studium keinen Job gefunden und als Gemüsehändler gearbeitet, bis er die Schikanen der lokalen Behörden nicht mehr ertrug und die äußere Gewalt gegen sich selbst wendete. Sein Tod war der Funke, der die Revolte auslöste. Das Internet trug das Feuer in die arabischen Gesellschaften.

Vom dortigen Umbruch ist Europa unmittelbar tangiert. Wir sollten nicht noch einmal der Illusion von 1989 erliegen, als mit dem Fall der Mauer der Sieg der Freiheit gefeiert wurde und der Westen die Deutungshoheit über das Weltgeschehen erworben zu haben glaubte. Vom Ende der Geschichte war die Rede – eine Selbsttäuschung mit weitreichenden Folgen. 2009 ging das HKW unter dem Titel „1989 – Globale Geschichten“ der Frage nach, welche anderen Ereignisse von 1989 die Welt veränderten. Neben dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, dem Tod von Chomeini im Iran, dem Ende der Apartheid-Regierung in Südafrika ging es auch um Afghanistan. Der afghanische Journalist Faheem Dashty kritisierte den Westen, der nach dem Abzug der Russen und dem Mauerfall den fernen Hindukusch seinem Schicksal überließ.

1989 wurde die Geburtsstunde von Al Qaida. Osama Bin Laden gründete das Netzwerk in Kabul für die gestrandeten internationalen Muslime, die auf afghanischer Seite gegen die kommunistische Sowjetunion gekämpft hatten. So nahm jene Entwicklung ihren Anfang, die in den Ereignissen des 11. September 2001 gipfelte und nicht zuletzt auch zur Stationierung deutscher Truppen am Hindukusch führte. Afghanistan, das Land an der Peripherie, steht heute im Zentrum deutscher Außenpolitik.

Ein Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft ist heute also nicht mehr nur durch Introspektion zu erreichen, sondern durch ein Nachdenken über die mannigfaltigen Beziehungen zur Welt. Deutschlands Identität in einer pluralen Welt, dazu kann das HKW einen Beitrag leisten. Nicht indem wir von Europa aus auf den Rest der Welt blicken, sondern indem wir Weltsichten vorstellen und Stimmen aus anderen Gesellschaften Gehör verschaffen. „Welthaltigkeit“ ist die Grundlage jedes zukunftsweisenden kosmopolitischen Gesellschaftsmodells, erst recht vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen wie Ressourcenknappheit und Klimawandel. Die aktuellen Bilder aus Japan führen vor Augen, dass der Ressourcenverbrauch unserer Wegwerfgesellschaften „Restrisiken“ in sich birgt, die unsere Existenz ganz real bedrohen.

Auf Bewusstseinsveränderung zielt auch das aktuelle Projekt „Über Lebenskunst“, das in diesem Jahr zusammen mit der Kulturstiftung des Bundes realisiert wird und alternative Denk- und Lebensmodelle vorstellt. Ein Leitgedanke dabei ist die Rückbindung technologischer Entwicklungen an die sinnlich erfahrbare Welt. Es geht nicht um Technikverzicht, sondern darum, wie viel Technologie eine offene, plurale Gesellschaft verträgt. Ein Modell ist der Garten als Experimentierfeld für die Beziehung Mensch – Natur. Vom Garten ernähren wir uns, wir bauen Gemüse und Obst an, erfahren, wie der Same aufgeht und die Pflanze wächst, die schließlich Früchte trägt. Wir erleben, welche Rolle die Umwelt spielt, wir bemerken den Einfluss von Regen, Sonne, Wind, Bodenbeschaffenheit. Als Gärtner beeinflussen wir das Geschehen, aber immer unter Beachtung der natürlichen Abläufe. Wir gestalten die Natur – und die Natur formt uns.

Vielleicht funktioniert Kulturaustausch auf ähnliche Weise. Ein Forum für globale Probleme wie das Haus der Kulturen der Welt bedarf nicht nur langfristiger Strategien, sondern vor allem der Einmischung: der Verstrickung mit der Realität.

Der Autor leitet das Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Bernd M. Scherer

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