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Detailverliebt. Bora Ćosić in seiner Charlottenburger Wohnung.

© Davids/Gregor Fischer

Hausbesuch bei Bora Ćosić: Im Königreich der kleinen Dinge

Der große serbische Schirftsteller Bora Ćosić hat seiner Berliner Exilheimat eine Sammlung feiner Miniaturen gewidmet. Ein Hausbesuch.

Zwei Kannen stecken ihre schlanken weißen Hälse zusammen. Es sieht aus, als hätten sie Wichtiges zu besprechen, dort drüben auf dem Sideboard vor der Loggia. „Meinst du, wir dürfen hier bleiben?“ – „Hoffentlich. Mir gefällt der Ausblick und die Orchideen-Nachbarin finde ich auch sehr angenehm.“ Die Unsicherheit der beiden ist verständlich. Um sie herum sind die Dinge noch in Bewegung, gerade erst wurden Gemälde aufgehängt. Zwei kleinere Formate lehnen an der Fußleiste. Für sie wird es in der Charlottenburger Altbauwohnung langsam eng. „Wir haben jetzt weniger Wände als in der anderen Wohnung, die ein Zimmer mehr hatte“, erklärt Bora Ćosić, der hier zusammen mit seiner Frau Lidija Klasić kürzlich eingezogen ist.

Nach zehn Jahren mussten die beiden ihr geliebtes Domizil in der nicht weit entfernten Mommsenstraße verlassen, weil die Vermieter Eigenbedarf anmeldeten. Zuvor aber spielte die Wohnung in Ćosićs aktuellem Buch „Lange Schatten in Berlin“ (Schöffling, 156 S., 16,95 €) noch eine Hauptrolle. In feinen, fantasievollen Miniaturen denen Schwarz-Weiß-Fotografien von Lidija Klasić beigefügt sind, schweift der Blick des 1932 in Zagreb geborenen und größtenteils in Belgrad aufgewachsenen Autors vom Treppenhaus mit dem „Raubtierkäfig“-Fahrstuhl und den „Zäsur“-Bordüren zu den Ornamenten auf der Wohnungstür über die langen Korridore bis ins Schlafzimmer und wieder hinaus aus dem Fenster. Besonders angetan haben es ihm Ecken, Übergänge und Zwischenräume.

Bei der liebevollen Betrachtung dieser Räume schweifen Ćosićs Gedanken mal ins Philosophische, mal ins leicht Skurrile, und immer wieder ergeben sich dabei überraschende Perspektiven. Zum Beispiel auf die Zwischenräume von Altbau-Kastenfenstern, in denen die Phantome seiner Kindheit wohnen, oder auf die Korridore der Wohnung, die für ihn ein Spiegel der Stadt sind: „Einbauschränke verweisen auf die Art, nach der Modesalons und kleine Läden in Passagen untergebracht sind, die Tür zum Badezimmer steht für die Eingänge von Friseuren und Nagelstudios. Schließlich am Ende des Spaliers, das Abenteuerlust, Kolportage und das lustige Schwarzmakthändlerleben aufreiht, riecht man die Küche, die über das von draußen geholte Gemüse von allem erzählt, was sich unter den Glasdächern der Markthallen ereignet.“ 

Michel Foucaults "Ordnung der Dinge" war eine Inspirationsquelle für ihn

Ćosić, einer bedeutendsten jugoslawischen Nachkriegsautoren, ist ein Meister darin, Räume und Gegenstände so lange anzuschauen und zu beschreiben, bis sie plötzlich lebendig erscheinen. Sein Umzug war deshalb – bei allen Beschwerlichkeiten, die es für einen über 80-Jährigen bedeutet, 64 Bücherkisten zu packen – auch eine Inspirationsquelle. Gerade arbeitet er an einem Essay, der davon angeregt wurde – mit Bezügen zu Michel Foucaults „Ordnung der Dinge“, erzählt er beim Gespräch im Wohnzimmer, den aufgeklappten Laptop in Griffweite.

Woher seine Faszination für Wohnungen und Alltagsgegenstände kommt? „Seit meiner Kindheit achte ich auf kleine Dinge. Dieser Sinn für Details kommt wohl von meiner Großmutter, die nicht nur in praktischen Dingen sehr findig und klug war. Sie besaß auch ein Buch, in dem sie alles Wichtige vermerkte. Neben ihren Rezepten gab es dort eine Liste mit den Geburtsdaten aller Familienmitglieder, aber auch die Anzahl unserer Schuhe war vermerkt und die Zahl der Schritte bis zur Kirche“, sagt Ćosić. In den Sommerferien besuchte er seine im slawonischen Nova Gradiška lebende Oma und deren Mann.

Sie kam regelmäßig mit einem Lebensmittelskorb zu ihnen in die Stadt. Eines Tages – der Enkel war vier Jahre alt – brachte sie auch ein Heft, Stifte und eine Grammatik mit, um ihn zu unterrichten. Eine Offenbarung, die Ćosić sieben Jahrzehnte später in seinem Erinnerungsband „Eine kurze Kindheit in Agram“ (Schöffling, 2011) so beschrieb: „Ich stürzte ins Delirium, zog mir eine überraschende, unheilbare Krankheit zu, war angesteckt vom Fieber des Lesenkönnens.“ Fortan liest das Einzelkind alles, was ihm vor die Augen kommt, egal ob es die Beschriftung einer Medikamentenverpackung oder das Wäscheschildchen am Hosenbund des Vaters ist.

Seine erste große Leidenschaft war der Surrealismus

Detailverliebt. Bora Ćosić in seiner Charlottenburger Wohnung.
Detailverliebt. Bora Ćosić in seiner Charlottenburger Wohnung.

© Davids/Gregor Fischer

Nicht nur die Buchstaben begeistern ihn, auch die Feinheiten der gesprochenen Sprache verfolgt er aufmerksam. In Zagreb hört er von der Haushaltshilfe und den bürgerlichen Freunden des Vaters verschiedene Klangfarben. Als die Familie 1937 nach Belgrad umzieht, kommen nochmal neue Töne hinzu. „Meine Mutter war sehr kommunikativ, es gab russische, ungarische und tschechische Emigranten unter ihren Freunden“, erinnert er sich. „Hinzu kamen verschiedene Handwerker und meine Klavierlehrerin war Russin.“ In der Schule lernt er schließlich den klassischen Belgrader Stil und hört bald darauf deutsche Okkupatoren und kommunistische Partisanen in der Stadt.

Ćosićs erste große literarische Leidenschaft gilt dem Surrealismus. Belgrader Dichter wie Dušan Matić, Marko Ristić und Aleksandar Vučo, denen er in „Frühstück im Majestic“ (Hanser Verlag, 2012) eine liebevolle Hommage gewidmet hat, bezeichnet er als seine geistigen Väter. Sie beeinflussen seine frühen Texte und auch sein erster großer Romanerfolg „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ von 1969 hat etwas Surrealistisch-Flirrendes. In einer Belgrader Bürgerwohnung während des Zweiten Weltkriegs angesiedelt, collagiert Ćosić den Text größtenteils aus Zitaten von Familienmitgliedern des kindlichen Ich-Erzählers und gibt so der Stimmenvielfalt, mit der er aufwachsen ist ein mitreißendes und witziges Echo. Das Buch verkaufte sich gut, es wurde mit einem wichtigen Preis ausgezeichnet, dramatisiert und verfilmt. Doch dann kam es zu einem politischen Wetterumschwung. Bora Ćosić erhielt Publikationsverbot, das Theaterstück wurde abgesetzt, der Film kam nicht in die Kinos. „Ich war plötzlich so was wie illegal, niemand fasste mich an. Es gab mich nicht mehr“, erinnert sich der Schriftsteller, der damals trotzdem nicht an Emigration dachte. Das schaffte 1992 erst Slobodan Milošević mit seiner Kriegstreiberei. Über Kroatien kam Ćosić 1995 nah Berlin und blieb.

Glücklicherweise hatte in den Siebzigern Ćosićs damalige, inzwischen verstorbene Frau eine Anstellung beim Fernsehen. „Deshalb konnte ich mich in Ruhe hinsetzen und schreiben.“ Begleitet von einem Kichern fügt er hinzu, dass ja auch Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić während der deutschen Besetzung Belgrads seine großen, erst nach dem Krieg publizierten Romane „Die Brücke über die Drina“, „Das Fräulein“ und „Wesire und Konsuln“ geschrieben habe. „Übrigens in der gleichen Belgrader Straße, in der ich als Kind gewohnt habe.“ Vier Jahre lang arbeitete Ćosić an seinem 700-Seiten-Werk „Tutori“, das nach einer neuerlichen Richtungsänderung in der Politik 1978 erscheinen konnte.

Das Buch galt lange als unübersetzbar, nur eine russische Version gab es bisher. „Ich habe viel Slang, Sprache aus Reklame und Cartoons verwendet,“ sagt Ćosić. Auch Auszüge aus den Notizbüchern seiner Großmutter fanden Eingang in das Opus magnum, das Brigitte Döbert – sie übersetzte auch „Lange Schatten in Berlin“ – nun ins Deutsche übertragen hat. Zwei Jahre hat es gedauert. Im Herbst wird der Schöffling Verlag „Tutori“ veröffentlichen. Bora Ćosić, der 2002 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, freut sich über diese späte Ehre. Überhaupt sei in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Resonanz auf seine Arbeit größer als in seiner alten Heimat, in die er regelmäßig zurückkehrt.

Im istrischen Rovinj hat er ein Haus, doch in Belgrad, wo er über 50 Jahre lebte und Familie hat, hält er es heute kaum länger als eine Woche aus. Die meisten seiner Freunde sind gestorben. Und wenn er auf die Politik zu sprechen kommt, ist seine Entfremdung von den jugoslawischen Nachfolgestaaten deutlich zu spüren „In Kroatien dominieren Engstirnigkeit, Populismus und ein aggressiver Katholizismus – reaktionärer als der Papst und Rom“, sagt er. Kluge und besonnene Kommentatoren wie der Schriftsteller Miljenko Jergović seien hoffnungslos in der Minderheit.

Berlin, das für Bora Ćosić vor allem aus seinem Charlottenburger Kiez besteht, ist für den Schriftsteller ganz klar der Mittelpunkt. Belgrad und Zagreb verblassen langsam: „Es kommt mir fast so vor als sei Berlin vor 20 Jahren der Anfang gewesen“, sagt er. In der neuen Wohnung gibt es nun auch wieder viel zu betrachten und entdecken. Erfreut berichtet er, dass sie nun sogar über einen Speicher verfügen. Der sei wie ein kleines Zimmer mit Fenster, jemand könnte da schlafen ... Da drängt sich doch fast schon wieder ein neues Abenteuer im Königreich der kleinen Dinge auf.

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