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Kultur: Heilige Monster

Das Grauen genießen: der amerikanische Maler Joe Coleman in den Berliner Kunst-Werken

Der Wahnsinn hat System. In winzigen Kästchen sind die Lebensstationen der Kindesmörderin Mary Bell zu sehen, ähnlich gemustert wie die Karos ihres Schottenrocks. Arglos schaut dieses kleine Monster mit den herunterrutschten Strümpfen und aufgeschlagenen Knien den Betrachter an. Mary Bell war gerade zehn Jahr alt, als sie 1967 einen Vierjährigen und einen Dreijährigen umbrachte. Bei seiner Festnahme gab das gestörte Kind arglos zu Protokoll, Morden sei doch gar nicht so schlimm, sterben müssten wir schließlich alle mal.

Joe Coleman legt alle Liebe hinein, wenn er seine Serienmörder, Menschenfresser, Bankräuber malt. Wie mittelalterliche Ikonen sind sie in seinen Gemälden inszeniert: vorne prangt das Porträt, drumherum drapiert er die Bildlegende mit minutiösen Details, die mit Hilfe eines Zweihaar-Pinsels und Juwelierbrille entstehen. Ein Werk von Coleman lässt sich nicht im Vorübergehen in Augenschein nehmen. Er zwingt den Betrachter durch die aberwitzig vielen Bildchen und Textelemente, sich in seine Welt der Abnormitäten zu versenken. Und schon erscheint die kleine Mary Bell nicht mehr allein monströs, sondern als Opfer ihrer familiären Verhältnisse, permanent misshandelt und unfähig zur Empathie. Doch Coleman, dieser Connaisseur des Abwegigen, belässt es nicht dabei. Boshaft lächelnd setzt er in die vier Ecken seines Gemäldes weitere zu Berühmtheit gelangte Kindermörder, darunter die unseligen Attentäter von Columbine.

Diese erste Ausstellung von Susanne Pfeffer, der neuen Leiterin der Berliner Kunst-Werke, ist ein Paukenschlag. Mit Spannung erwartet, denn von der 33-Jährigen wird nicht weniger verlangt als die sofortige Belebung der zuletzt herumdümpelnden Ausstellungsinstitution. Zur Erhöhung des Erwartungsdrucks trägt noch bei, dass sich in diesem Kunstsommer mit Documenta, Biennale in Venedig und Skulpturenprojekten in Münster das Haus umso deutlicher profilieren muss. Nur so viel war gewiss, Susanne Pfeffer macht eigentlich immer alles anders als gedacht. Und so durfte man hoffen, dass sie auf Anti-Blockbuster-Kurs geht. Mit ihrer furiosen Einzelausstellung des amerikanischen Sonderlings Joe Coleman ist ihr das geglückt. Durch die Intensität jedes einzelnen Bildes weitet sich dennoch der Horizont, und so gewinnt die Soloschau eine Multiperspektivität, für die eher das Genre Großausstellung steht.

Der Amerikaner Coleman ist ein Kosmos für sich; erst seit kurzem kreuzen sich seine Wege mit dem offiziellen Ausstellungsbetrieb – seit das Rotterdamer Boijmans Van Beuningen-Museum eines seiner überbordenden Werke neben einen Breughel platzierte. Der 55-jährige Autodidakt ist die moderne Version des moralisierenden Geschichtenerzählers von einst. Was dem Mittelalter die Heiligenlegenden waren, die blutrünstigen Erzählungen von Martyrium und Kreuzestod, sind ihm heute die Taten der Psychopathen. „Ich glaube wirklich, dass Serienmörder etwas von Heiligen haben. Sie sind Schamanen, die sich an dunkle Orte begeben“, sagt er im Gespräch mit Pfeffer. Prompt beginnt der Betrachter über die eigene seelische Verfasstheit des Malers nachzusinnen, am Ende der Kuratorin, die diese Auswahl traf.

Doch ganz so einfach geht das nicht, auch wenn Coleman offen über seine pyromanischen Neigungen als Kind spricht. Ähnlich wie seine Anti-Helden, nur auf künstlerischer Ebene, öffnet er den dunklen Seiten unseres Zusammenlebens eine Tür. In den Kunst-Werken lässt sich dieser abseitige Ort sogar real betreten. In der Hauptausstellungshalle präsentiert Coleman Schaustücke seines „Odditorium“ genannten Kuriositätenkabinetts, das er in seiner Brooklyner Wohnung seit dreißig Jahren beständig erweitert. Arrangiert in drei ehemaligen Zirkuswagen, sind hier nun Lee Harvey Oswalds Kopf in Wachs zu sehen, eine Locke von William Clark Quantrill, zu dessen Bande auch Jesse James gehörte, oder ein ausgestopftes zweiköpfiges Kalb. Man mag sich gruselnd abwenden oder voyeuristisch hingezogen fühlen. Diese Klaviatur des Bösen, Abnormen wusste zumal in Berlin schon ein anderer perfekt zu spielen: George Grosz, dem Coleman eines seiner Porträtbilder widmet. Den Desastern der Weimarer Republik fühlt er sich ebenfalls nah. Für Coleman heißen sie heute Vietnamkrieg, sexuelle Revolution und Drogenkonsum sowie Bush-Regierung. Wie Grosz in den Zwanzigern hält auch er seiner Zeit drastisch den Spiegel vor.

Kunst-Werke, Auguststr. 69, bis 12. 8..

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