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Kultur: Heimat ist da, wo du gerade nicht bist

Schön. Alles grün.

Schön. Alles grün. Kein einziges Haus zu sehen, nur ein paar Hochspannungsleitungen. An der Torgauer Straße ist Berlin zu Ende. Einen Schritt weiter, und man steht in Brandenburg. Einen Schritt zurück, und man befindet im Treppenaufgang eines Hellersdorfer Plattenbaus. Anja Tuckermanns Wohnung liegt im fünften Stock. Nach hinten hat sie zwei Fenster und einen Balkon. Von dort aus kann man die anderen Plattenbauten sehen, die alle in den achtziger Jahren gebaut wurden und fast alle braune Fassaden haben. Wenn dann auch noch der Himmel grau ist, so wie heute, sieht das Ganze nicht so schön aus. Aber das ist nicht das Wichtigste. "Es ist sehr ruhig hier", sagt Anja Tuckermann, und so muß man das wohl sehen, wenn man das Angebot angenommen hat, ein Jahr als Stadtschreiberin in Hellersdorf verbringen zu dürfen.

Stadtschreiber gibt es hauptsächlich dort, wo man sich als angehender Schriftsteller nicht unbedingt länger als nötig aufhalten würde. In Minden, zum Beispiel. Oder in Halle. Auch Flensburg, Rheinsberg und Bergen-Enkheim vergeben regelmäßig den Posten eines Stadtschreibers. Berlin hat so etwas natürlich nicht nötig, denn hier wohnen ja von selbst schon viele Schriftsteller. Nur in Hellersdorf, dem östlichsten Bezirk der Stadt, merkt man eben nichts davon. Dort leben 136 000 Menschen, und man darf vermuten, daß unter ihnen kein einziger Schriftsteller wäre, wenn die zuständige Wohungsbaugesellschaft nicht seit drei Jahren Stadtschreiber bestellen würde. Michael Wildenhain durfte als erster in einem Plattenbau wohnen und hat dort an seinem Roman "Ein deutscher Herbst" geschrieben, danach war die Lyrikerin Kathrin Schmidt in Hellersdorf, und jetzt geht gerade Anja Tuckermanns Amtszeit zu Ende. Ihr Nachfolger - Arne Roß - ist schon angekündigt.

Eigentlich ist der Job des Hellersdorfer Stadtschreibers ganz einfach: Man muß einfach nur dasein, und das noch nicht einmal unbedingt die ganze Zeit. Auch in Anja Tuckermanns drei Zimmern sieht es nicht besonders wohnlich aus. Sie war zwar manchmal für ein paar Tage am Stück in der Platte Hellersdorf, erzählt sie, - "um in Ruhe zu arbeiten" -, gelebt hat sie aber weiterhin in ihrer Altbauwohnung in Kreuzberg. Sie gesteht auch offen ein, daß sie sich für die Stelle als Stadtschreiberin vor allem wegen des Geldes begeistert hat: 2000 Mark Stipendium bekommt man hier im Monat zusätzlich zu der mietfreien Wohnung. Aber natürlich hat Anja Tuckermann auch etwas gemacht. Auch wenn sie es zu den Veranstaltungen des "Hellersdorfer Kulturrings", zu der man sie immer wieder eingeladen hat, nie so richtig geschafft hat. Sie hat in Schulen gelesen, hat Lesungen mit anderen Autoren organisiert und zwei ihrer "Hörstücke" aufgeführt.

Vor allem aber hat die Jugendbuchautorin, die zuletzt zusammen mit Andreas Steinhöfel den Liebesbriefroman "David Tage Mona Nächte" veröffentlichte, Interviews geführt. In den Gesprächen, die demnächst auch als Buch erscheinen sollen, versucht die 38jährige, sich der Welt der Hellersdorfer Jugendlichen anzunähern - und sich ein Stück Ostdeutschland am Rande Berlins erklären zu lassen. Warum hier zum Beispiel so viele Drogen genommen werden. Warum "links" oder "rechts" einfach nur heißt, für oder gegen Ausländer zu sein. Und warum man eigentlich weg will aus Hellersdorf und dann doch bleibt: "Die meisten sind hier noch nie rausgekommen", sagt Anja Tuckermann. Und dann fällt ihr ein, daß sie selbst zwar viel gereist ist, aber eigentlich ihr ganzes Leben in Kreuzberg verbracht hat.

Auch Rudolf Kujath, der Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf, kommt aus Westberlin. Er lebt in Wilmersdorf, findet es tief im Osten aber prima. "Schauen Sie sich mal um, Sie finden hier so gut wie kein Graffiti, keine Penner, keinen Dreck auf den Straßen", freut er sich. Die WoGeHe, so kürzt sich die Gesellschaft ab, verwaltet 23 000 Wohnungen und ein paar Einfamilienhäuser. Im Jahr gibt Herr Kujath etwa 10 Millionen Mark für die "Profilierung des Wohnstandortes Hellersdorf" aus: für Kunst und Kultur, für Jugendkeller oder für Balkonwettbewerbe. Und eben auch für den Posten eines Stadtschreibers. Profilierungsarbeit ist notwendig, denn Hellersdorf hat, vorsichtig ausgedrückt, ein Imageproblem. Man denkt eben zuerst an die häßlichen DDR-Häuser, an die Zeitungsberichte über rechtsradikale Prügeleien und die unattraktive Randlage - und nicht daran, daß der Bezirk die viertniedrigste Arbeitslosenstatistik von Berlin hat. "Wenn es mir gelänge, in unsere schicken Einfamilienhäuser in den Sieldungsgebieten hier in Hellersdorf einen Teil der Westberliner Elite einziehen zu lassen, wäre das anders", sagt Kujath.

Anja Tuckermann zumindest bleibt noch etwas in Hellersdorf, obwohl ihre Stadtschreiberstelle eigentlich in diesen Tagen ausläuft. Darüber freut sich Herr Kujath. Sie darf die Wohnung in der Torgauer Straße einige Monate länger nutzen, um ihr Buch mit den Interviews fertigzustellen. Aber bald, sagt sie, ist es dann auch genug: "Ich brauche erst einmal eine Pause von Ostdeutschland." Zurück nach Kreuzberg dauert die Fahrt etwa eine Stunde. Nach Wilmersdorf ist es genauso weit: "Das ist doch keine Entfernung für Berlin", hatte Herr Kujath erklärt. Spätestens in Hellersdorf ändert sich eben die Sicht der Dinge. Ganz nahe bei der U-5-Haltestelle "Louis-Lewin-Straße" steht das Werbeplakat einer Tankstellenkette. Ein Astronaut ist darauf zu sehen, der durchs Weltall schwebt. Darüber steht: "Für alle, die weg wollen."

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