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Löwen-Gewinnerin Sofia Coppola und Jury-Präsidentin Quentin Tarantino. Links Filmfestchef Marco Müller.

© Reuters

Film-Festival: Heimspiel für Coppola in Venedig

Einst in Venedig entdeckt: Sofia Coppola triumphiert mit "Somewhere" beim Filmfest am Lido.

Die spannendste Frage am Ende war: Würde Jury-Präsident Quentin Tarantino dem Rest des Gremiums seinen Stempel gnadenlos aufdrücken oder nicht? Die Antwort nach dem Verdikt des siebenköpfigen Gremiums: Ja, er hat den anderen seinen Stempel aufgedrückt. Und nein, er hat es keineswegs.

Aus einem gewissen Mangel an Stars hatten die italienischen Medien Tarantino schon zu Beginn des 67. Festivals am Lido zu ihrem Liebling ausgerufen. Er war der Ersatzstar, der Dauerstar, der Alletagestar. Tarantino herzte die Fans, schüttelte Tausende Hände, gab Hunderte von Autogramme, wurde beim Joggen am Strand und nachts bei den spätesten Partys gesichtet – und stand anderntags in der Sala Grande gemeinsam mit dem Publikum leidenschaftlich die nächsten Wettbewerbsfilme durch. Und als er nach der Besichtigung von „Balada triste“ spontan die Daumen hochreckte für dessen Regisseur Alex de la Iglesia, da war für 99 Prozent der Prognostiker klar: Gewinnen würde hier am Sonnabend der Spanier und kein anderer.

Nun, so ist es nicht gekommen. Wohl holte der Mann, der nach „Inglourious Basterds“-Vorbild eine rasante Pulp-Version der spanischen Fascho-Geschichte abgeliefert hatte, den Regie- und Drehbuchpreis. Aber andere Kräfte in der Jury wie der Franzose Arnaud Desplechin oder der Mexikaner Guillermo Arriaga, die für durchaus subtilere kinematografische Handschriften als jene Tarantinos stehen, mögen den Jury-Chef davon überzeugt haben, dass sich selber schwächt, wer seine eigenen Epigonen auszeichnet. Tatsächlich ist „Balada triste“, anders als „Inglourious Basterds“ ein reichlich lärmendes Werk, zwar mitunter mit Witz, aber ohne sardonische Tiefe, auch viel Effekten statt Effizienz. Und mit Gedröhn statt Dramaturgie.

Aber wer sagt denn, dass Tarantino sich einer Mehrheit hat beugen müssen? Die Entscheidung für Sofia Coppolas „Somewhere“ ist eine, die er – mit seiner früheren Partnerin ist er heute nahe befreundet – vorzüglich mittragen kann. Angesichts der unendlichen Kontakte und manchen Verbindlichkeiten Tarantinos in die Filmwelt, wozu auch der Freundschaftspreis für seinen Entdecker Monte Hellman gezählt werden darf, mag der Ruch der Befangenheit aufkommen. Aber erstens steht Tarantino da locker drüber – schon am ersten Tag hatte er entsprechende Mutmaßungen mit der Versicherung gekontert, er sei durchaus in der Lage, gute Filme von schlechten zu unterscheiden. Und zweitens steht Sofia Coppolas „Somewhere“ da drüber.

Die Entscheidung für Coppolas vierten Film – mit dem zweiten, „Lost in Translation“, hatte sie 2003 von Venedig aus die Welt in einer zarten Brise erobert – markiert den glücklichen Ausgang eines filmisch überwiegend beglückend verlaufenen Festivals. „Somewhere“ liest sich nach „Lost in Translation“ wie eine direktere Befragung jenes Übervater-Tochter-Verhältnisses, das die Karriere der Tochter Francis Ford Coppolas lange überschattete. Hatte sie damals die Perspektive einer in Hotel- und Prominenzwelten verlorenen jungen Frau eingenommen, lässt sie in „Somewhere“, spätes Echo, einen so erfolgreichen wie einsamen Schauspielervater die inzwischen elfjährige Tochter aus geschiedener Ehe entdecken. Da ist jemand, der in einer geschenkten Zufallszeit sanft für ihn sorgt – und plötzlich spürt er die eigene versäumte Sorgepflicht. „Somewhere“ ist keine Variante auf „Lost in Translation“ (und der Goldene Löwe keine nachgetragene Wiedergutmachung), sondern die souverän intime Überwindung des einstigen Metaphernfilms in einen viel unmittelbareren Schmerz hinein.

Nun, da die Jury gesprochen hat, mag man bedauern, dass bahnbrechende, wenn auch schwierige Werke wie Abdellatif Kechiches „Vénus noire“ oder auch erschütternde Politfilme wie Wang Bings „The Ditch“ übersehen wurden. Aber dieselben Beobachter registrieren mit einiger Erleichterung, dass mögliche andere laute Tarantino-Favoriten wie die neuen Werke von Tsui Hark oder Takashi Miike leer ausgingen. Und mit feinem Sensorium hat die Jury auch die starken Beiträge aus Ländern wie Russland („Silent Souls“ von Aleksei Fedorchenko) oder Griechenland („Attenberg“ von Rachel Tsangari) keineswegs übersehen, die eher als Zwergstaaten auf der aktuellen kionematografischen Weltkarte stehen.

So erfrischend wie diese Überraschungen gestaltete sich das ganze Filmangebot diesmal am Lido. Nahezu jeder der 24 Wettbewerbsbeiträge fand seine enthusiastischen oder zumindest bedächtigen Verfechter, und mit überzeugenden Psychodramen, Komödien, ästhetischen Wagnissen und politisch gewichtigen Beiträgen waren zahlreiche wirkungsvolle Filmfelder herausragend vertreten.

Das ist umso verblüffender, als viele Beobachter nach den schwachen Durchgängen in Berlin und Cannes gemutmaßt hatten, 2010 werde im Gefolge der Krise ein insgesamt enttäuschendes Festivaljahr. Doch Mostra-Meister Marco Müller hat die Unkenrufer elegant enttäuscht. Seine Auswahl spricht für eine vitale, wenn auch nicht immer auf Masse zielende Filmindustrie, die den von der alltäglichen Reizflut ermatteten Zuschauer mit virtuellen Extremerfahrungen vor die Leinwand lockt. Die Grenzüberschreiter, ja: die Grenzverletzer sind es, die von diesem Festival in Erinnerung bleiben. Und wenn sie sich dabei im schlimmsten Fall den Tod zu holen drohen.

Immer wieder suchte das bildersüchtige Medium Kino solch extreme Orte, in denen sich bemerkenswert ambivalente Identifikationsfiguren in Grenzsituationen bewähren müssen. Da ist der in Jerzy Skolimowskis „Essential Killing“ aus einem geheimen CIA-Camp durch eine unendliche Taiga fliehende, von Vincent Gallo verkörperte Taliban – der Film holte gleich zwei Preise. Oder der Fabrikleiter, der in Aleksei Fedorchenkos mit dem Kamerpreis ausgezeichnetem „Silent Souls“ mit dem Auto durch ein abweisendes Mittelsibirien fährt und die sterblichen Überreste seiner Frau an einem Fluss verbrennt. Erst jenseits aller Grenzen erkennen diese Protagonisten, wer sie wirklich sind.

Kaum anders ergeht es denen, die zur Bewältigung ihrer individuellen Enge über Grenzen gehen. Das kann in die Borderline-Selbstverletzung münden wie bei der von Natalie Portman flirrend nervös verkörperten Ballettänzerin in Darren Aronofskys „Black Swan“, oder in Fett- und Magersucht wie beim unglücklichen Nicht- Paar in dem italienischen Wettbewerbsbeitrag „Die Einsamkeit der Primzahlen“. Oder in die schreckliche Rechnung, die der Leichenschauhaus-Angestellte im chilenischen „Post Mortem“ aus unerwiderter Liebe aufmacht.

Oder Menschen sprengen einfach das monadische Zweierpaarleben und „basteln sich neu zusammen“, wie Sophie Rois so schön in der Pressekonferenz zu Tom Tykwers ambitiös missglücktem und von der Jury übergangenem „Drei“ sagte. Im besten Fall geht das eine Zeit lang gut, etwa in Antony Cordiers Liebesquartett „Happy Few“; aufregend mitzuerleben in der Zeiteinheit eines Kinofilms sind derlei Experimente allemal.

Und die Schattenseiten? So vital das Festival sich diesmal in Herz und Geist zeigte, so ramponiert, ja: lädiert wirkte seine Außenhaut. Zwar verloren sich die anfänglich rundum beraunten Untergangsfantasien der Gäste in dem Maß, wie die Wucht der Virtualerfahrungen von ihnen Besitz ergriff; aber dass, zwar hinter roten Plastikbahnen verborgen, die Baustelle für den neuen Palazzo del Cinema – ursprünglicher Fertigstellungstermin: 2011 – einem Ewigkeitsschlaf entgegenzudämmern scheint, kehrte immer wieder ins Bewusstsein zurück.

Es genügte, aus den Fenstern des Casinò auf die Brache zu schauen, in der, nicht zuletzt genährt durch kräftigen Festivalregen, die Vegetation längst wieder sprießt. Wie es heißt, werden die seit März ruhenden Arbeiten kaum vor dem kommenden Frühjahr weitergehen. Offizielle Begründung: Zunächst will ein Lagerort für die illegal verbuddelten, asbestverseuchten Strandhäuschen vergangener Jahrzehnte gefunden sein. Dass sich dahinter aber weitaus brisantere Finanzierungsprobleme des 100-Millionen-Euro-Projekts Palazzo del Cinema verbergen, gilt als ausgemacht.

Und trotzdem: Wer hierherkommt, liebt den Lido um seiner selbst willen. Liebt die ewig verlotterte Italianità dieser Mischung aus Kultur und Meer in der Nachsaison, selbst wenn der Himmel über der Adria sich so kühl gibt wie in diesem Jahr. So lange uns die Kinosonne scheint, in diesem oder jenem Film, an dem wir uns noch lange wärmen, ist alles andere egal.

DIE PREISE

Goldener Löwe: „Somewhere“ von Sofia Coppola

Silberner Löwe für die beste Regie: „Balada triste“ von Alex de la Iglesia

Spezialpreis der Jury: „Essential Killing“ von Jerzy Skolimowski

Hauptdarstellerin: Ariane Labed in „Attenberg“ von Athina Rachel Tsangari

Hauptdarsteller: Vincent Gallo in „Essential Killing“

Nachwuchsdarsteller: Mila Kunis in „Black Swan“ von Darren Aronofsky

Drehbuch: Alex de la Iglesia für „Balada triste“

Kamera: Mikhail Krichman für „Silent Souls“ von Aleksei Fedorchenko

Erstlingswerk: „Cogunluk“ von Seren Yüce (in der Nebenreihe Venice Days)

Spezial-Löwe für ein Gesamtwerk: Regisseur Monte Hellman

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