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Kultur: Herrgott, wirf Geld herab!

„Hänsel und Gretel“ sind unsterblich, besonders zur Weihnachtszeit. Das ist zwar ein Missverständnis. Aber ein notwendiges

Von Christine

Lemke-Matwey

Eigentlich war die Sache mit Weihnachten ja ein Zufall. „Wahrlich, es ist ein Meisterwerk erster Güte“, schrieb Richard Strauss 1893 an den Komponisten Engelbert Humperdinck: „Welch herzerfrischender Humor, welch köstlich naive Melodik, welche Kunst und Feinheit in der Behandlung des Orchesters, welche Vollendung in der Gestaltung des Ganzen!“ Der Enthusiasmus galt Humperdincks Märchenspiel von „Hänsel und Gretel“, das am 23. Dezember des selben Jahres in Weimar unter Strauss’ Leitung das Licht der Welt erblickte (respektive von diesem erblickt wurde). „Mein lieber Freund“, fuhr Strauss in seinem Brief fort, „Du hast den lieben Deutschen ein Werk beschert, das sie kaum verdienen, trotzdem aber hoffentlich recht bald in seiner ganzen Bedeutung zu würdigen wissen werden.“

Und der junge Weimarer Kapellmeister sollte Recht behalten. Hermann Levi brachte den Dreiakter schon kurz darauf in München heraus, Felix Mottl tat es in Karlsruhe. Später standen Künstler von Weltrang wie Gustav Mahler, Felix Weingartner, Hans Pfitzner, Max von Schillings und Leo Blech am Pult, wenn sich die Geschwister mit „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh“ einen Spaß machten, oder wenn es tief aus dem Hexenhaus „Knusper, knusper knäuschen“ rief. Ein Siegeszug rund um die Welt, ein beispielloser Triumph. Nur die Sache mit Weihnachten, wie gesagt, war eher ein Zufall. Denn das Stück spielt im Sommer, und Lebkuchen und Lebkuchenkinder allein machen noch kein Christfest.

Was also ist es – neben einer missverständlichen und gründlich missverstandenen Rezeption –, das dieses Stück vor allen anderen so unerhört weihnachtstauglich erscheinen lässt? Die Initiation „Oper“ schlechthin? Die Tatsache, dass sich Millionen kleiner Bildungsbürger Dezember für Dezember bereits bei einer fast neunminütigen Ouvertüre allen kratzenden Wollstrumpfhosen zum Trotz in engelsgleicher Geduld üben müssen? Oder doch eher: Die ideologische Verniedlichung des Grimmschen Märchenstoffs, seine singende, klingende Aufarbeitung – paradox genug! – im Wagnerschen Butzenscheibenformat? In diesem „Kinderstuben-Weihfestspiel“ (!) wird alles schön und gut, raunen die Hörner gleich zu Beginn. Als glitzerte das deutsche Tannengrün in Terzen noch einmal so grün und so mythisch zaubrisch. Als ließe sich das ganze Elend dieser Welt in vier Choral-Takte packen: „Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand euch reicht.“ Und den Text zur Musik, die frohe Botschaft, muss nicht einmal kennen, wer die Kraft seines Trostes, wer die Macht seiner Wirkung am eigenen Leib erfahren will. Oper ist nun einmal subversiv. Das hat sie so mancher Kirchenmusik und manchem Volkslied selbst in Sachen Weihnachten voraus.

Merkwürdig aber, dass andere Werke des Musiktheaters, die weitaus wörtlicher vom Fest des Friedens und der Liebe handeln, sich in unserem Bewusstsein weniger festgesetzt haben. Man denke nur an Jules Massenets „Werther“ nach Goethe: „Noël! Noël!“, singen die frommen Kinderlein am Anfang und am Ende, und wenn im vierten Akt tatsächlich die heilige Nacht anbricht, und Werther, der Selbstmörder, in seinem Blute liegt, dann dürfte nicht nur das christliche Abendland ein Problem haben. Festlich jedenfalls wird einem hier nicht ums Herz, da mögen Musik und Dramaturgie - wie neuere Analysen belegen - noch so geschickt mit religiös verbrämten Liebesbotschaften und Zeichen der Vergebung jonglieren. Wiederum andere Stücke – Pfitzners „Christ-Elflein“, Hindemiths „Das lange Weihnachtsmahl“ oder Orffs „Ludus de nato Infante mirificus“ – spielen im Repertoire allenfalls eine exotische Rolle. Nun steht das kindlich Reine mit dem Mythischen und Wunderbaren seit jeher fest im Bunde. Gemeinsam ist beiden, dass nicht begründet werden muss, was nicht begründet werden kann. Und dass alles Wissen, alle Weisheit im Glauben aufgehoben ist.

Märchen, sagt der musiktheaterkundige Literaturwissenschaftler Volker Klotz, weckten niemals das Bedürfnis nach Änderung der bestehenden Verhältnisse. Märchen erzählen nicht von der Revolution. Märchenopern, fügen wir hinzu, erheben den Status quo jener scheinbar harmoniewütigen Weltordnung zum moralisch noch viel besseren, weil ästhetisch vollkommeneren Programm. Disparates wird hier nie vollends auseinanderklaffen, Zerrissenes stets ein letztes Band behalten, Verwandeltes, böse Verzaubertes bald wieder sein wahres, gutes Gesicht zeigen. Dies alles macht der Graben, macht die Macht der Musik. Und zwar keineswegs nur in braven Terzen oder artigem C-Dur. Es ist hier die Kunstform Oper selbst, die das Seelenheil sichert - mitsamt ihrer Utopie einer immer wieder neu ins Lot zu bringenden Wirklichkeit.

Auch in diesem Sinn darf Humperdincks Märchenspiel „Hänsel und Gretel“ auf das vielgescholtene Libretto seiner Schwester Adelheid, verheiratete Wette, als Prototyp einer verschollenen Gattung gelten. Die Märchenoper aller Märchenopern – ein Solitär in der Brandung des Repertoires. Man mag Purcells „Fairy Queen“ ins Feld führen oder Webers unvollendeten „Rübezahl“, Wagners „Feen“, Rossinis „Cenerentola“ oder gar Mozarts „Zauberflöte“ – immer scheint die Oper mit Macht über das Märchen zu kommen. Nicht so bei Humperdinck (wobei seine „Königskinder“ von 1910 zwischen Märchentand und symbolistischem Musikdrama wiederum einen Sonderfall darstellen). Dies bedeutet freilich nicht, dass die bald 110-jährige Erfolgsgeschichte von „Hänsel und Gretel“ auf dem nackten Gegenteil beruhte: Dass hier das Märchen buchstäblich über alle Oper käme und der verbleibende Kunstanspruch bestenfalls ein volkstümlicher und vermeintlich kindgerechter wäre.

Ob die Knusperhexe nun Tenor singt und ein fieser Doktor ist, der kleine Kinder klont, ob die Geschwister wechselweise vor qualmenden Fabrikschloten des 19. oder Atommeilern des 20. Jahrhunderts in die Irre gehen oder alles Märchenweben den unverhohlen Wagnerschen Dimensionen geopfert wird: Das moderne Regietheater tat und tut sich schwer mit dem Guten und Schönen. Den Vogel schoss in dieser Hinsicht vor ein paar Jahren Nigel Lowery ab, als er das Geschehen am Theater Basel gewissermaßen kunstfrei beim Wort nahm: Da betätigten sich Hänsel und Gretel als zwei an allerlei Puppen- und Menschengebein nagende Kinderkannibalen, da nahm der Hunger als historische Lebensrealität grauslich glaubhafte, abstruse Gestalt an. Eine intelligente Rückbesinnung in der Oper, mit der Oper auf die Authentizität des Märchens? Immerhin darf hinter dem Text der Gebrüder Grimm eine Verballhornung des Mordes an einer gewissen Katharina Schraderin vermutet werden (was Humperdinck nicht wissen konnte): jener hessischen „Bakkerhexe“, die 1647 im Gelnhauser Hexenprozess zwar freigesprochen, kurz darauf jedoch von den Eheleuten Hans und Grete Metzler ermordet und in ihrem eigenen Backofen verbrannt worden sein soll – angeblich, weil sie ihre Lebkuchenrezepte nicht preisgeben wollte.

Es braucht in jedem Fall ein gewisses Gemüt, ein kleines bisschen Naivität und feierliche Herzenswärme, um sich über dieses Stück nicht zu erheben. Denn erst in der Ambivalenz, dem Frevel der Mutter etwa („Herrgott, wirf Geld herab!“) und der Einfalt des Abendsegens, der herrschenden Not und ihren herrlich ernsten, luxuriösen Noten, offenbart sich die Lebendigkeit des Widerspruchs. Erst der Konflikt zwischen den Ansprüchen eines typischen Erfüllungsstücks und dessen Verweigerung zerrt die ästhetische Wahrheit ans Licht. Ihn gilt es programmatisch auszutragen, sie gilt es zu finden. „Hänsel und Gretel“ nämlich ist und bleibt in ganz und gar besonderer Weise dem Publikum verpflichtet: Den Kindern und „Ungebildeten“, denjenigen, die ganz unten sind und nichts zu sagen haben; denjenigen, die in die Geheimnisse der Liebe und der Oper erst noch eingeweiht werden müssen – ob sie wollen oder nicht.

Historische Wahrheiten hin, ästhetische Initiationsriten her: Auch die nächsten Generationen bürgerlicher Opernzöglinge werden an „Hänsel und Gretel“ (hoffentlich) ihre Erinnerungen knüpfen. Das Stück scheint unverwüstlich, allen kratzenden Wollstrumpfhosen und spöttischen Regiekapriolen zum Trotz. Bei Adelheid Wette und Engelbert Humperdinck übrigens werden die Geschwister nur einmal in den Wald geschickt (und nicht zweimal wie bei den Gebrüdern Grimm), und sie haben auch keine böse Stiefmutter und schleppen am Ende weder Perlen noch Edelsteine nach Hause. Statt dessen schenken sie den verhexten Lebkuchenkindern die Freiheit und ein neues frohes Leben.

„Wenn die Not aufs höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht“, singen Eltern wie Kinder zum glücklichen Schluss. Und mag die künstlerische wie die reale Gegenwart aus den Fugen sein, wie sie will: An der Musik lässt sich schwer rütteln. Solange ihr Lot noch in unsere Herzen fällt, wird bestimmt wieder alles gut.

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