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Kultur: Heute Sodbrennen

Michael Maar liest große Tagebücher von Pepys bis Herrndorf.

Warum hält jemand Tag für Tag fest, was er erlebt hat? Wird einem damit das gelebte Leben nicht zur Last? Beispiele dafür gibt es: „Man ist die Vergangenheit förmlich los und lebt nun wohlgemuth und unbedenklich in der Gegenwart und in die Zukunft hinein“, schrieb einst fröhlich Thomas Mann seinem Freund Otto Grautoff, nachdem er, 21-jährig, seine frühen Tagebücher in den Ofen geworfen hatte.

Freilich: Durchgehalten hat Mann seine Tagebuchabstinenz nicht. Bis an sein Lebensende verzeichnete er akribisch Alltagsbanalitäten wie Sodbrennen oder den Verzehr einer Schaumrolle beim Konditor für 1 Mark 75. Heute umfassen seine Journale in der S.-Fischer-Ausgabe zehn dicke Bände – ein Werk, für das Michael Maar glatt „die Hälfte seiner Bibliothek“ opfern würde, wie der in Berlin lebende Kritiker bekennt. In einer „kleinen Promenade“ versucht Maar, am Beispiel berühmter Tagebücher eine Antwort auf die Frage zu finden, warum gerade so viele Schriftsteller ein Diarium führten und führen. Und ebenso, warum die täglichen Notate fremder Leben beim Publikum eine solche Faszination auslösen, werden diese posthum oder manchmal auch schon zu Lebzeiten des Diaristen veröffentlicht.

Auf dem Buchmarkt boomt das Tagebuch in der Tat: Immer neue Journale werden publiziert, darunter nicht nur Wiederentdeckungen wie die Aufzeichnungen des Herzogs von Croÿ oder das Traumtagebuch Arthur Schnitzlers. Sondern zunehmend auch die von Gegenwartsautoren, von Helmut Krausser über Rainald Goetz bis zu Wolfgang Herrndorf, dessen Onlinetagebuch „Arbeit und Struktur“ kürzlich erschienen ist. Auf seine zwei Fragen findet Maar jeweils gleich mehrere, allerdings kaum überraschende Antworten. Für den Leser, so Maar, sei hier auf einzigartige Weise das Allerprivateste verbunden mit der großen Geschichte. Man denke nur an Kafkas Eintrag vom 2. August 1914: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Nachmittags Schwimmschule.“ Vor allem enthalten Tagebücher die tröstliche Botschaft, dass wir „als Sündensäcke doch alle Brüder und Schwestern sind“. Vorausgesetzt freilich, der Verfasser sei sich selbst gegenüber ehrlich. Weshalb für Journale die Regel gelte: Je offener und schonungsloser, desto besser, so Maar – um sogleich Gegenbeispiele wie die auf Fiktion und Rollenspiel setzenden Tagebücher Max Frischs zu präsentieren.

Vor allem die Blütenlese aus bedeutenden Journalen machen Maars Streifzug zu einem Lesevergnügen und laden zu Entdeckungen ein. Etwa von Peter Sloterdijks „Zeilen und Tage“: „Wie man von Kindern sagt, sie hätten Ameisen im Po, so hat Sloterdijk Ameisen im Hirn. Er scheint vor Ideen zu kribbeln.“ Dagegen wirkt Maars Promenieren am Leitfaden der Assoziation manchmal verblüffend unbeholfen („À propos Klatsch aber und à propos Katholik“).

Vielfältig können auch die Funktionen für den Diaristen sein: Ging es Viktor Klemperer im Dresdner „Judenhaus“ vor allem um die Dokumentation unmenschlicher Verhältnisse, dient anderen das intime Journal als „Beschwerdestelle, deren Schalter nie geschlossen hat“, so Maar. Weshalb Gottfried Keller sein Journal als „traulichen Schmollwinkel“ bezeichnete oder Schnitzler als „Spucknapf meiner Stimmungen“. Seit jeher sind Tagebücher der Ort, wo all die erlittenen oder vielleicht auch nur eingebildeten Kränkungen und notorisch unzulänglichen Huldigungen der Mitmenschen festgehalten werden können. Sie sind aber auch, Stichwort Wahrhaftigkeit, der Ort großer Bekenntnisse, etwa von heimlichen erotischen Neigungen. Freilich kann einen die Lust am Bekennen und Gestehen in Teufels Küche bringen, sobald Unbefugte mitlesen. Mancher schützt sich mit einer „Geheimschrift“ wie Elias Canetti, der sich einer Kurzschriftvariante bediente, oder flüchtet sich in einen Fremdsprachenmix wie Samuel Pepys. Das Problem, wie sich intime Aufzeichnungen vor unbefugten Blicken schützen lassen, ist im Zeitalter von Facebook und NSA aktueller denn je.

Facebook findet dabei vor Maars Augen als moderne Journalform keine Gnade: Wer immer die Seite betrete, werde „von den Tageströpfchen der befreundeten Poster bespritzt“, deren „Welt- und Lebensgefühl sich in der letzten Viertelstunde um sieben Gradstriche verändert“ hat. Schon richtig, aber: Worin genau besteht der Unterschied zwischen solchen Tageströpfchen und Thomas Manns Sodbrennen? Am Ende wohl doch nur in der Form? Dass Dichter-Tagebücher häufig vor allem als Werkstätten und Schreiblaboratorien fürs fiktionale Werk dienten, etwa bei Robert Musil, den Maar seltsamerweise als „Nicht-Diaristen“ bezeichnet, bleibt in seiner Promenade ein unterbelichteter Aspekt.

Michael Maar: Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf. C.H. Beck, München 2013. 260 S., 19,95 €.

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