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Kultur: Hier leben, nein danke

Frontalangriff auf die Wirklichkeit: Tocotronic veröffentlichen ihr siebtes Album und bekennen sich zur Romantik

Eine Gitarre tänzelt im Dreiviertel-Takt durch drei immer gleiche Akkorde, während eine andere einen einzigen langen Ton hält. Dann setzen Schlagzeug und Bass ein. Der Song fängt zu kreiseln an wie ein trauriger Leierkasten, und der Sänger verkündet sein Programm: „Pure Vernunft darf niemals siegen/ Wir brauchen dringend neue Lügen.“

Das klingt vermessen, und das ist es auch. Tocotronic, als „wichtigste Band Deutschlands“ gefeierte Rockgruppe, hatte mit Mäßigung nie viel am Hut. Aber seit sich das Hamburger Trio um den gebürtigen Amerikaner Rick McPhail auch personell verstärkt hat, strebt es ins Großformatige. Keine akustischen Polaroids mehr, sondern breitwandige Tableaus, auf denen sich die Dinge wie zu einem Wildbret niederlegen.

Ganze 14 Tage soll die Entstehung der siebten Tocotronic-Platte „Pure Vernunft darf niemals siegen“, die am Montag erscheint, gedauert haben. Zwei Wochen für 13 Songs, in einem Berliner und im Hamburger Stammstudio. Weshalb Sänger Dirk von Lowtzow von einem „fast schon Dogma-mäßigen Album“ spricht. Bei Rockbands führt diese Selbstbeschränkung auf’s Wesentliche allerdings nicht unbedingt zu grobkörnigen, hysterisch- verwackelten Momentaufnahmen. Zumal sich Tocotronic vorher lange mit den neuen Songs beschäftigt haben und sie vor dem Mikrofon nur noch herunterreißen mussten. Diese Schnelligkeit wirkt heilsam. Ein Gegenprogramm zum Tüftelmarathon des Vorgängeralbums „Tocotronic“ (2002), als sie nie genug bekommen konnten und ausgiebig mit Streicherarrangements und elektronischen Hilfstruppen experimentierten. Nichts dergleichen mehr. Die Musik geht wieder aus ihrem Kern hervor: Drei, nein vier Burschen stehen im Kreis und wollen einander mit Augenblicken schöner Schlichtheit überraschen.

Man hat das Gefühl, dass Tocotronic sich im elften Jahr ihres Bestehens auf einem anderen – höheren? – Niveau neu entdeckt haben. Das irrlichternde Gesuche, bei dem von Lowtzow immer wieder zu derselben endlos-verschlungenen Melodie zurücksprang, hat sich wohl erledigt. Der Titelsong schließt einem in seiner euphorisch-melancholischen Spielmannsdramaturgie sofort das Herz auf. Und während man noch darüber sinnt, ob es nicht vielmehr ein Zuviel an Unvernunft in der Welt gibt, hat einen dieser romantische Trotz auch schon überzeugt.

„Pure Vernunft“ ist ein musikalischer Frontalangriff auf die Wirklichkeit von beinahe Handkeschen Ausmaßen. Die ironischen Spiegelfechtereien vergangener Tage, als Tocotronic-Stücke wie Innenweltgrußkarten einer empfindsamen Knaben-Clique klangen („Ich glaube, ich habe meine Unschuld verloren“), ist einem artifiziellen, hochtrabenden Ernst gewichen: „In dieser faktenversessenen Gegenwart“, sagt von Lowtzow nun, „ist es schon fast revolutionär, sich mit Spirituellem und Emotionalem zu beschäftigen. Das, was man früher Eskapismus nannte, ist heute eine radikal-politische Geste.“ Und so schweift er in seinen Texten in fantastische Welten aus, „wo Gestirne sich verschlingen“.

Der Zorn der Musiker auf das, was sie „Flucht zur Realität“ nennen (von Lowtzow), richtet sich im Eröffnungsstück gegen den Zwang, sich in Deutschland zugehörig fühlen zu müssen; Stichwort: doppelte Staatsbürgerschaft, Leitkultur. Dem diffusen Klima dieser Vereinnahmung setzt von Lowtzow all das entgegen, was er wirklich „mag“ – darunter: Tiere nachts im Wald, das Selbstexil, weiße Blumen, Engel kurz vor dem Fall. Ein Träumer, der weiß, wie viel ihn von der Normalität trennt: „Hier leben, nein danke“, lautet sein Fazit.

Irgendwie leben Tocotronic dann aber doch hier. Der Rückzug in surreale Gegenwelten folgt demselben Impuls wie die geschichtsvergessene Ahnungslosigkeit, mit der Bands wie Mia oder das Duo Peter Heppner/Paul van Dyk ein neues „Wir sind wir“-Gefühl bedienen. Dem Wunsch nach einem unbefangenen Neuanfang – Motto: Man wird das doch mal sagen dürfen – begegnen Tocotronic leider nur mit einer ebenso ungelenken Geste. Auch sie wollen nur wieder mal etwas sagen dürfen – diesmal eben, wie „scheiße“ es hier ist.

Trotzdem: Für eine Band, deren politischste Aussage bislang lautete, „Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun zu haben“, gehören Verweigerungsgesten zum guten Ton. Und man hat den Zeitpunkt immer herbeigefürchtet, an dem Tocotronic sich ihres verspielt-belustigten Trainingsjacken-Dilettantismus entledigen würden. Nun, da aus den spackelig- adoleszenten „Befindlichkeitskaspern“ („Süddeutsche Zeitung“) von einst belesene Dreißigjährige geworden sind, überrascht einen das Resultat doch. Die Stoffe sind viel zu komplex, um sie in einem dreiminütigen Rocksong zu bewältigen. Das waren sie zwar immer, weshalb das, was den Liedern an Erfahrungen und berührenden Momenten vorausging, meist ungesagt blieb. Aber nun spürt man, dass Tocotronic fast alles auslassen – und so völlig unverständlich werden. Sie entdecken das Verschwurbelte als Rebellionsprinzip.

Es ist noch gar nicht so lange her, da beschäftigten sich Tocotronic vor allem mit den Menschen, von denen sie nicht verstanden wurden. Seither hat sich ihr Zugriff versachlicht. Nun geht es um Dinge, die sie nicht begreifen. Dass im Dunst der Metaphern auch das Ziel nicht mehr auszumachen ist, dem der wild-fabulierende Ausdruckseifer zustrebt, schadet der Musik überhaupt nicht. Im Gegenteil. Dass sie kein Ziel hat, macht ihre Stärke aus. Sie bricht auf, ohne ankommen zu wollen. „Ich fürchte nichts weit und breit“, heißt es am Ende, „Ich werde frei sein und gehen/ Zur nächsten Station.“

Tocotronic: „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (L’Age D’Or/Rough Trade)

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