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Verlebtes enfant terrible. Christopher Marti als "Die Lesbe" auf der Bühne.

© robert-recker.de

Hingehen: „Heute Nacht oder nie“ in der Komischen Oper: Per Strumpfhalter durch die Galaxis

Von wegen Glanz und goldene Zeit: Die Revue „Heute Nacht oder nie“ mit den Geschwistern Pfister widmet sich dem Komponisten Mischa Spoliansky - und zeigt die dreckige Seite der zwanziger Jahre.

Fahrlässig oft werden die Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts bemüht, wenn es darum geht, den Glanz der Metropole Berlin zu beschwören. Sicher, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren nicht nur Kaisertum und Monarchie hinweggefegt worden, sondern auch viele künstlerische Konventionen. Neue Stilrichtungen blühten auf, in Musik, Malerei, Literatur wurde viel gewagt – doch den allermeisten Menschen ging es damals keineswegs golden, sondern ziemlich dreckig.

George Grosz und Otto Dix haben das in ihren Bildern drastisch dargestellt. Wie aus deren Gemälden entsprungen sehen die Figuren aus, die in der Revue „Heute Nacht oder nie“ die Komische Oper bevölkern. Der von Stefan Huber inszenierte Abend ist dem Komponisten Mischa Spoliansky gewidmet, der den Soundtrack dieser Zeit maßgeblich mitprägte. Es war ein Wunsch der Geschwister Pfister, ihm zu Ehren die Atmosphäre der Epoche noch einmal heraufzubeschwören. Was großartig gelingt.

Inmitten des auf der Bühne platzierten Orchesters agieren die Gesangssolisten und vier sexy Tänzerinnen: Grandios schnoddrig versucht Andreja Schneider ihr Huren-Elend zu überspielen, zum Fettwanst-Bonzen ausgestopft, repräsentiert Tobias Bonn den vergnügungssüchtigen Neureichen, während Christoph Marti das Publikum als drogenabhängige Lesbe schockt. Die Konsequenz, mit der Marti den Schritt vom Sexsymbol ins Charakterfach vollzogen hat, ist wohl beispiellos in der hauptstädtischen Bühnenszene: Aus dem aasig-erotischen „Cabaret“-Conferencier ist bei „Frau Luna“ im Tipi die resolute Wilmersdorfer Witwe geworden – und in der Komischen Oper das verlebte enfant terrible. Noch dämonischer als bei der Premiere im vergangenen Jahr wirkt er hier, die Augen zu schwarzen Höhlen geschminkt, dazu der verwirrend androgyne Körper, viel Haut und rote Nylons, unter den Strumpfhaltern spannen sich beeindruckend die Muskeln.

Selbst wer die Show jetzt bei der Wiederaufnahme zum zweiten Mal sieht, entdeckt noch jede Menge neue Details: Liebevoll parodiert Stefan Kurt als verklemmter Beamter den Ausdruckstanz à la Gret Palucca, der aus dem Kontext gerissene Nebensatz „Sie geht nach Spandau“ wird im mehrstimmigen A-Cappella-Satz zur Hommage an die Comedian Harmonists. „Auf glitzernden Flügeln: das Glück!“ seufzen diese Nachtgestalten in den zwischen 1928 und 1953 entstandenen Spoliansky-Chansons, sie wollen auf der Avus Tango tanzen, schnuppern in ihren Hinterhofbehausungen am Blumenmuster der Tapeten und hören die Engel singen, was die Spatzen vom Dache pfeifen. Nach nur 90 Minuten fällt der Vorhang, viel zu schnell, wie bei einem guten Tonfilm (wieder am 27. 4., 7. 5., 16., 19. und 22. 6. sowie 7. 7.).

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