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Historisches Zentrum: Ab durchs Mittelalter

Es ist der Geburtsort der Stadt: Warum Berlin das neue alte Molkenmarktviertel braucht.

Reden wir von der Zukunft, reden wir vom Mittelalter Berlins. Was wäre, wenn der Berliner dort, wo er gewöhnlich auf ein riesiges Verkehrskreuz trifft, auf das historische Zentrum seiner Stadt stieße? Auf der Leipziger Straße ist der Autofahrer auf schnelle Durchfahrt oder großflächige Staus eingestellt, aber nun bewegt er sich unvermittelt in Gassen und blickt in kleine, beschauliche Höfe. Was wie eine Traumsequenz klingt, ist gar nicht so absurd. Tatsächlich verändert Berlin sich im Kern, nur dass die Stadt es bislang kaum zur Kenntnis nimmt.

Das verinnerlichte Stadtbild des Berliners, seine mental map, hinkte schon immer hinter der Stadtentwicklung her. Seit dem Mauerfall verhält er sich wie Rip van Winkle, der erst aufwacht, nachdem die Stadt ihre Verpuppungen abgelegt und ihr neues Bild entfaltet hat. Vor mehr als einem Jahr hat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung einen Bebauungsplan vorgelegt, den sogenannten B-Plan, der vor allem eines bedeutet: einen kühnen Schritt in die dunkle Zone der Stadtgeschichte, ins Mittelalter.

Mittelalter und Berlin? Man zuckt unwillig die Schultern, denn die Periode ist der Geschichtsamnesie verfallen. Stadtgeschichte, das heißt Barock, Klassizismus, Residenzstadt, Hauptstadt, Mietskasernen, Architekturmoderne, Drittes Reich, Bomben, sozialer Wohnungsbau, Mauerbau usw. Mittelalter ist nur ein Plusquamperfekt im Nirgendwo. Aber dieses Nirgendwo ist der Geburtsort Berlins: Das Molkenmarktviertel soll wieder entstehen, Ende 2008 wird der qualifizierte B-Plan verabschiedet: der Auftakt zum Grundstücksverkauf. Aus der Asphaltdecke zehnspuriger Straßen und aus Parkplätzen wird also bald ein Stadtkern mit Altstadtkonturen hervorbrechen.

Der Große Jüdenhof. Ein Name wie ein Appell

Ein außerordentlicher Plan - den die Öffentlichkeit bislang ignoriert, trotz aller Veröffentlichungen. Kein Wunder, denn dieser realexistierende Unort ist peinlich. Wer auswärtige Gäste hat, kennt ja die peinliche Frage: "Hat Berlin eigentlich ein historisches Zentrum?" Dann muss man sie zu dieser zugigen Verkehrswüste zwischen Alexanderplatz-Tunnel, Rotem Rathaus, Stadthaus und Weidendammbrücke führen. Voilà, hier war es einst, das centro storico, getilgt zugunsten der "autogerechten Stadt". Hier ist die Tragik Berlins, ist der geschichtsvernichtende Furor der Nachkriegszeit greifbar.

Mit dem schwer beschädigten mittelalterlichen Kern wurde auch gewachsene kulturelle Identität abgeräumt. Rund um den Molkenmarkt dichtete und lehrte Paul Gerhardt, hier gingen die Frühromantiker Tieck und Wackenroder zur Schule, hier zeichneten Eduard Gaertner und Heinrich Zille das mittelalterliche Milieu. Alles zerstört.

Die Folge: Hässlichkeit, Autolärm, Leere. Das historische Zentrum mutierte zum Antizentrum, das die Stadtteile nicht mehr bindet, sondern sie auseinander- treibt. Die Identität von Neu-Berlin ist aus Verkehrsbrachen dieser Art komponiert: als polyzentrische Metropole, Stadt der Widersprüche und des Fragments. "Berlin -Stadt ohne Form" heißt das Buch eines TU-Architekturprofessors. Der Professor findet das gut. Der Weg von der Verkehrswüste zur neuen Altstadt erscheint paradoxerweise als bloßer Willkürakt gegen Autofahrer, weil nichts mehr an den großen Verlust erinnert. Die Internationale Handelskammer hat ihren Protest schon angemeldet. Für sie ist der Durchfluss von 70 000 Autos pro Tag Beweis effektiver Urbanität. Aber sie lässt schon mit sich handeln und will ein bisschen Verkehr opfern für ein wenig mehr Stadt am Rande: eine Debatte mit dem geistigen Zuschnitt von Legoland.

Das historische Zentrum. Wo bleibt die Debatte?

Tatsächlich wird das Molkenmarktviertel das Paradigma des Berliner Verkehrs massiv verändern, wenn die breite Trasse vom Potsdamer Platz zum Alexanderplatz auf städtische Maßstäbe heruntergedimmt wird. Aber dass der ADAC und die Handelskammer schon jetzt defensiv argumentieren und die Senatsplanungen im Prinzip akzeptiert sind, hat etwas mit der Geschichtsmagie der großen Stadt zu tun. Aller Zerstörungsfuror konnte das Historische nicht völlig auslöschen. Es lebte weiter in hochkondensierten Kernen. Oft genügte ein Auslöser, ein Name oder eine Postkarte wie beim Stadtschloss - und die Geschichte redet wieder.

Hier war es ein Buch über einen Nicht-Ort anstelle des ehemaligen Molkenmarkts, den verwahrlosten Parkraum am Rande der Zufahrten zum Alexanderplatz-Tunnel. Nur einige Randsteine verraten, was hier einst war: der Große Jüdenhof. Ein Name wie ein Appell. 2005 veröffentliche der Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm eine umfassend recherchierte Monografie über den Jüdenhof. Er beschreibt ihn als einen "Ort, aus der Welt gefallen. Da und nicht da" (Lukas Verlag, 230 S., 25 €). Seitdem existiert der Ort in den Köpfen und nährt den Wunsch, er und das Viertel sollten wieder entstehen. Es sind also die mittelalterlichen Berliner Juden, die uns die Pforten zu unserer Geschichte öffnen. Und sollte es sich bei der Struktur, die in etwa sechs Metern Tiefe entdeckt wurde, tatsächlich um eine mikwe handeln, ein jüdisches Ritualbad, wäre das eine Sensation, nämlich das nördlichste Tauchbad Europas. Dann hätte das Molkenmarktviertel seine Schlagzeilen.

Wie kann eine moderne Metropole sich Richtung Mittelalter zurückbewegen? Die Berliner Situation ähnelt der von Königsberg/Kaliningrad. Auch dort steht man vor einer tabula rasa; man muss Geschichte erfinden, um sie wiederzufinden. In Kaliningrad genügt der Ukas aus Moskau: Wiederherstellen, so wie es aussah! In Berlin weiß man nur, was man nicht will: Mittelaltermärkte mit Ritterspielen. Es geht um kritische Rekonstruktion, um die Interpretation der Geschichte durch die Moderne. Aber wie baut man am mittelalterlichen Ort mit moderner Architektur?

Mehr Einwohner als Bürger

Wenn die Asphaltdecke der Gegenwart vom mittelalterlichen Urgrund abgezogen wird, ist der historische Grundriss nicht länger nur Überlieferung, sondern greifbare Realität, die ihr Recht geltend macht. Wie kann also moderne Architektur historische Identität erlebbar machen? Für die Lösung solcher Aufgaben gibt es so gut wie keine Erfahrungen. Dresden mit dem Neuen Markt und Frankfurt mit dem Römer haben es einfacher. Sie können auf Überlieferungen, Spolien und ein intaktes Stadtgedächtnis zurückgreifen. Die Berliner Altstadt um den Molkenmarkt war hingegen ein Ort der kleinen Leute, Handwerker und Gewerbetreibenden, mit zwei- oder dreistöckigen Häusern, einfachen Stuckornamenten und verwinkelten Höfen. Keine Blüte, kein Niedergang, sondern Alltag. Ein Imitat verbietet sich schon aus stadtwirtschaftlichen Gründen: Die neuen Parzellen finden Käufer nur bei einer annehmbaren Geschossflächenzahl. Wie also soll gebaut werden?

In Berlin, dieser verstaatlichten Stadt, werden solche Fragen gewöhnlich allein an den Senat gerichtet. Der Bausenat ist seit den Tagen von Hans Stimmann Avantgarde, und die Stadt schlurft mit ihren kritischen Kritikern misslaunig hinterher. Dabei existiert mit dem Planwerk Innenstadt eine demokratische Methode der rekonstruierenden Stadtplanung. Der alte Plan wird auf den aktuellen gelegt; unter Beteiligung aller Akteure entwickelt man von Ort zu Ort Kompromisse. Die Methode hat eine Schwäche: Der wichtigste Akteur, die Stadtbürgerschaft, glänzt durch Abwesenheit. In Berlin leben mehr Einwohner als Bürger.

Ohne die Inspiration des genius loci lässt sich die Ambition eines modernen Bauens im historischen Medium nicht bewältigen. Bloß, wo findet man ihn? Die Senatsverwaltung kann ihn nicht erfinden. Im Gegenteil, sie arbeitet umstellt von vorgegebenen Kompromissen mit der Verkehrsverwaltung, den Koalitionspartnern, dem Liegenschaftsamt. Bislang hat die Planung ihre Schwächen, insbesondere der Verzicht auf den Molkenmarkt selbst, allein deswegen, weil die Straßenbahn unbedingt im Grünbett kurven soll. Sollte dieser Platz geopfert werden, würde der Ort preisgegeben, an dem der Roland der Stadtfreiheit stand. Solche Kompromisse erklären sich allein aus der Tatsache, dass der Bauverwaltung der entscheidende Rückhalt fehlt: die historisch engagierte Stadtbürgerschaft und ein Regierender Bürgermeiser, der mit der Stadtgeschichte lebt.

Eigentlich müsste Berlin ein stadthistorisches Exerzitienjahr einlegen. Material gibt es reichlich: die Bestände des Märkischen Museums, die Berliner Bürgerbücher, die nie bearbeiteten Grabungsergebnisse des 19. Jahrhunderts, die Romane von Wilhelm Raabe oder Willibald Alexis, die Urkundenbestände, die Forschungen des Meinecke-Instituts. Ein erster Schritt wäre die Vergegenwärtigung dessen, was die Altstadt einst war, in Form einer leichten Lektüre: Franz Hessels Schilderung einer Stadtrundfahrt von 1930, in der Zeit der Weimarer Republik.

"Hier gibt es noch richtige Gassen"

Der "Flaneur von Berlin" war ein Mann des Neuen Westens, des Romanischen Cafés, des Ku'damms, der den "demokratischen Stadtfrohsinn" auf den Boulevards spürte. Als Tourist in der eigenen Stadt stellt er über die Altstadt verblüfft fest: "Hier gibt es noch richtige Gassen, noch Häuschen, die sich aneinanderdrängen und mit den Giebeln vorlugen …". Über die Details, Ornamente und Wappen entziffert er die örtlichen Legenden, das Fibelwissen vom Schuster, dem Lotterielos und Friedrich dem Großen oder vom Spukhaus in der Parochialstraße und seinen "Schwarzmietern". Bei Hessel findet er sich, der genius loci . Im Jüdenhof erlebt er ein "Idyll mitten in der lärmenden Stadt". Daraus könnte das Motto für die Rekonstruktion des Viertels werden: ein Ort der Stille im Brausen der Metropole.

Wann begreift Berlin die ungeheure Chance, die mit dem Molkenmarkt verbunden ist? Es zeichnet sich ein grand projet ab: Die Arbeiten am Spittelmarkt, die Grabungen am Petriplatz und der Wiederaufbau des Stadtschlosses als Humboldt-Forum geschehen zur gleichen Zeit. Hier kann die Hauptstadt ihre eigene Renaissance zum Programm erheben: die Metamorphose einer Metropole, die in Europa ihresgleichen sucht. Die mittelalterliche Platzkette - vom Spittelmarkt über den Altköllner Fischmarkt, den Molkenmarkt bis zum Neuen Markt an der Marienkirche - kann wiedererstehen, als bürgerstädtischer Gegenpart zum Schloss. Aber nein, man redet nicht miteinander: Die Schloss-Vorkämpfer ignorieren die Rekonstruktion des bürgerlichen Berlins, die Planer des Molkenmarktviertels halten sich aus der Schlossdebatte heraus.

Die Augen bleiben chronisch geschlossen. Statt die Chance zu erkennen, badet Klaus Wowereit lieber im alternativen Biedersinn und erfreut sich an den Widersprüchen der Stadt. Und der Berliner erwartet noch immer vom Kiez alles und vom Zentrum nichts. Dabei wird die Identität der Stadt trotz allem in ihrer orchestralen Fülle zurückkehren, wenn der einst prägende historische Dualismus von Stadt und Schloss wieder zum Erlebnis wird. Dann können die Berliner endlich entdecken, was evident ist: die Schönheit ihrer Stadt.

Klaus Hartung lebt als Publizist in Berlin und ist als unabhängiger Gutachter an der Ausarbeitung des B-Plans für den Molkenmarkt beteiligt.

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