zum Hauptinhalt

Kultur: Holocaust: Norman Finkelsteins Buch "The Holocaust Industry" macht in Deutschland Furore

Je weiter der Holocaust zurückliegt, desto gegenwärtiger wird er. In Israel hat der Chef der orthodoxen Rabbiner kürzlich eine Kontroverse ausgelöst, als er behauptete, der Holocaust sei eine Art Rache Gottes für die Sünden der Juden.

Je weiter der Holocaust zurückliegt, desto gegenwärtiger wird er. In Israel hat der Chef der orthodoxen Rabbiner kürzlich eine Kontroverse ausgelöst, als er behauptete, der Holocaust sei eine Art Rache Gottes für die Sünden der Juden. In Washington ist das Holocaust Memorial Museum die zweitgrößte Besucherattraktion nach dem Lincoln-Memorial. In Deutschland ist die Shoah ohnehin ein dauerhaft aktuelles Thema: Der braune Terror reißt nicht ab; ebenso wenig die Debatte über das Holocaust-Mahnmal.

Eine merkwürdige Folge dieser Diskussionen besteht darin, dass sich die Stimmen häufen, die eben diese Debatten kritisieren. Wenn es so etwas wie eine Holocaust-Industrie gibt, dann gibt es jetzt auch die Gegenprodukte: eine Art Anti-Holocaust-Industrie. In einer Flut von Büchern und Artikeln wird neuerdings bedauert, dass der Holocaust Gegenstand von derart öffentlichem Interesse geworden sei. Es wäre besser, so heißt es, man würde darüber schweigen. Aber je lauter diese Klagen erhoben werden, umso mehr entsteht der Verdacht, dass sie demselben Phänomen zugehören. Schließlich tragen auch die Klagenden zur Verbreitung des Themas bei. Und auch ihnen dient der Holocaust zur eigenen wissenschaftlichen oder publizistischen Profilierung.

Seitenhiebe gegen Goldhagen

So ist es jedenfalls im Fall von Norman G. Finkelstein. Seine Eltern haben den Holocaust überlebt, wie der amerikanische Publizist selbst betont. Der Autor erhielt zunächst Aufmerksamkeit durch ein Buch, das Israel und den Zionismus angriff; während der Goldhagen-Kontroverse sparte er nicht mit Seitenhieben gegen den jungen Autor. Jetzt erweitert Finkelstein seine Kritik. In seinem neuen Buch "The Holocaust Industry" bezeichnet er Daniel J. Goldhagens Thesen als Gipfel einer weit verbreiteten jüdischen Verschwörung, die versucht, Deutschland und die Schweiz zu Entschädigungszahlungen zu erpressen und den Holocaust zu benutzen, um Schuldgefühle zu Gunsten der Sache Israels zu schüren. Wenn er Begriffe wie "Krämer" und "Schacherer" verwendet, verfährt Finkelstein nicht gerade zimperlich mit jüdischen Organisationen wie dem American Jewish Congress, der Jewish Claims Conference oder der Anti-Diffamierungs-Liga.

"The Holocaust Industry" besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil versucht der Autor zu zeigen, wie amerikanische Juden den Holocaust zum Thema zu machen begannen. Dies geschah im Jahr 1967, als der Holocaust nach dem israelisch-arabischen Krieg zum prominenten Argument in den USA wurde. Vor 1967 - schreibt Finkelstein - waren die jüdischen Organisationen nur Marionetten der amerikanischen Regierung, die ihren Kalten Krieg führte und Deutschland aufbauen wollte. Der Ehrgeiz, zur Elite zu gehören und sich von der jüdischen Linken zu distanzieren, habe bewirkt, dass der Holocaust vor allem in einem speziellen Zusammenhang angeführt worden sei: dem des Antikommunismus.

Nach 1967 änderte sich das. Finkelstein zufolge wurde Israel eine so starke politische Macht, dass der Holocaust dafür herhalten musste, die permanente Gefährdung der Juden vor Augen zu führen, gegen die auch Israels strategische Allianz mit den USA nichts ausrichten konnte. Wie ist den jüdischen Eliten das gelungen? Im zweiten Teil seines Buches behauptet Finkelstein, dass die Holocaust-Literatur insgesamt nur aus Propaganda bestehe. Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker" basiere auf dem Argument, dass Juden sich schon immer wehren mussten. Auch die Einzigartigkeit der Judenvernichtung sei reine Fiktion - man denke nur an Armenien oder Vietnam. Finkelstein schließt daraus: "Angesichts des täglich von der Holocaust-Industrie produzierten Unsinns ist es ein Wunder, dass es so wenig Skeptiker gibt." Auch die Annahme, der Holocaust sei Ausbruch heidnischer Wut, bezeichnet Finkelstein als verbreitetes und gefährliches Dogma. Gefährlich deshalb, weil es die totale Loyalität mit Israel rechtfertige: Wer permanent bedroht ist, muss sich unentwegt selbst verteidigen.

"Erpressung polnischer Bauern"

Im letzten Teil führt Finkelstein aus, dass die jüdische Aggressivität sich nicht mit Selbstverteidigung begnüge, sondern versuche, andere Länder finanziell zu erpressen. Das Geld aus den Entschädigungszahlungen gehe ohenhin nicht an die Überlebenden der Konzentrationslager, sondern diene der Bereicherung jüdischer Organisationen. Außerdem könne es gar nicht so viele Überlebende geben, wie die Organisationen behaupten. Nachdem die "Holocaust-Industrie" Deutschland und die Schweiz ausgeplündert habe, wolle sie nun gegen Osteuropa vorgehen. Dabei nimmt der Autor an, dass die öffentliche Meinung auf die "Erpressung hungernder polnischer Bauern" weniger wohlwollend reagieren werde als auf die Forderungen gegenüber Schweizer Banken und deutschen Industriellen.

In Deutschland haben Finkelsteins Thesen für Furore gesorgt. Ähnliche Thesen sind zwar täglich in der "National-Zeitung" nachzulesen, aber nun erscheinen sie erstmals in den geschliffenen Formulierungen eines amerikanischen Juden: Das verursacht ein Schaudern. Dabei geht Finkelsteins Buch schon von der falschen Voraussetzung aus, es gebe eine einheitliche "jüdische Lobby". Das ist schlichter Unsinn. Wer in den letzten zwei Jahrzehnten die Debatten über Israel verfolgt hat, weiß um die Vielfalt der Meinungen. Tatsächlich finden sich unter den amerikanischen Juden die schärfsten Kritiker des israelischen Staates. Aber Finkelstein tut so, als ob deren Mehrheit rechtskonservativ sei und macht - mit Bezug auf den Regierungswechsel in Israel - einen geradezu rassistischen Gegensatz auf: In den USA sei das aus "kosmopolitischen Zentraleuropäern" bestehende jüdische Establishment inzwischen von den Nachkommen "chauvinistischer, osteuropäischer Shtetl-Juden" ersetzt.

Für den, der Goldhagens Buch der Unwissenschaftlichkeit bezichtigt, sind all das schlampige, wenn nicht ungeheuerliche Behauptungen. Martin Peretz, Verleger des Magazins "The New Republic", unterstützt den Präsidentschaftskandidaten Al Gore. William Safire, Kolumnist der "New York Times", ist Republikaner. Amerikanische Juden sind zuallererst Amerikaner in einer pluralistischen Gesellschaft und keineswegs Gefangene ihrer Herkunft, stammen sie nun aus Ost- oder Zentraleuropa. Ebenso merkwürdig ist Finkelsteins Behauptung, jüdische Organisationen hätten sich im Kalten Krieg angepasst. Was hätten sie denn tun sollen? Stalin umarmen, der 1952 die Ausrottung der Juden plante, zu der es nur deshalb nicht kam, weil der Diktator starb?

Strategische Argumente

Das Abstruseste in "The Holocaust Industry" ist jedoch die Verteidigung der Industriellen and Banken in Deutschland und der Schweiz. Die armen, hilflosen Bankiers! Spätestens hier wird deutlich, dass Finkelstein all seine Argumente strategisch ins Feld führt. Beklagt er sich zunächst darüber, wie die USA Deutschland und seine Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbaute, verteidigt er eben diese Industrie am Ende gegen die so genannte jüdische Lobby!

Es steht außer Zweifel, dass die "Jüdische Macht" - um den Titel eines anderen, kürzlich erschienenen Buches zu zitieren - in den USA zugenommen hat. Joseph Lieberman, Al Gores Kandidat für die Vize-Präsidentschaft, ist nur ein Beispiel. Aber daraus zu schließen, dass es ein einheitliches amerikanisches Judentum gebe, ist falsch. Die jüngste Veröffentlichung zum Thema heißt "Jew versus Jew" und beschreibt die Auseinandersetzungen innerhalb dieser so gar nicht verschworenen Gemeinschaft.

Finkelsteins Buch ist in den USA auf wenig Resonanz gestoßen. Denn "The Holocaust Industry" versammelt die Thesen eines neurotischen Extremisten, der sich als Held stilisiert und eine künstliche Kontroverse anzetteln will. Da verlangt einer brüllend nach Schweigsamkeit und denunziert diejenigen, die angeblich vom Holocaust profitieren, in einem Buch, das aus eben dieser Denunziation Profit schlagen möchte. Im Jiddischen gibt es dafür ein Wort: Chuzpe.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false