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Kultur: Horror in der späten Nacht

Das Filmfest Istanbul erzählt von den Rissen, die durch die türkische Gesellschaft gehen

Leuchtend rosa sind die Banner des Istanbuler Filmfestivals, quer über die berühmte Istiklal Caddesi in Beyoglu gespannt. Selbst die eingefleischten Clubtouristen, die neuerdings aus aller Welt in die Stadt einfallen, können sie kaum übersehen – und tatsächlich, immer wieder tauchen die auch in den Festivalkinos auf, unverkennbar cool und hip. Azize Tan, die neue, junge Direktorin des Istanbuler Filmfestivals, freut das. Sie ist ohnehin auf ein jüngeres Publikum aus, das sie mit mehr Filmen in allen Sektionen, billigen Tickets, Filmpartys und Sonderveranstaltungen – etwa Master Classes in Universitäten – zu ködern versucht. Mit Erfolg, scheint es; die riesigen Kinopaläste in Beyoglu platzten dieses Jahr auch bei den Tagesvorstellungen aus allen Nähten.

Einer der angesagten Clubs ist der Schauplatz von Serdar Akars „Barda“. Der Regisseur des skandalumwitterten Reißers „Tal der Wölfe“ (2005) hat dieses Mal einen Film über Klassenverhältnisse inszeniert, voller extremer Gewalt einerseits und Reflexionen über Recht und Gerechtigkeit andererseits. „In der Bar“ – so heißt der Titel übersetzt – wird eine Gruppe später Gäste, alle in ihren Zwanzigern, schick und cool, von einer Gang sozialer Verlierer überfallen, gefoltert, vergewaltigt und beinahe ermordet. Der Gegensatz zwischen Opfern und Tätern könnte nicht größer sein: hier die kultivierten Weltbürger, Kinder des modernen Istanbuls, das denjenigen alle Chancen bietet, die sie sich leisten können; dort die ungehobelten Landflüchtlinge aus Anatolien, die in der Stadt nicht zurechtkommen, sich an ihre Sitten klammern und an ihresgleichen. „Maganda“ nennen die eleganten, europäisch orientierten Istanbuler solche Leute: „Gesocks“. Serdar Akar, wegen seiner Mainstream-Affinität beargwöhnt von Kollegen und Kritikern, gehört gleichwohl zu den Besten seines Fachs und hat den sozialen Clash exakt auf den Punkt gebracht. Die schwer erträglichen Gewaltpassagen hat er mit Gerichtsszenen montiert, in denen die sorgfältig rasierten und gekleideten Angeklagten plötzlich wie ehrbare Geschäftsleute, die traumatisierten, geschundenen Opfer dagegen wie Outcasts wirken und alle am Ende gestraft sind.

Der Zusammenprall der Kulturen im energiegeladenen, brodelnden Istanbul ist eines der beiden großen Themen des nationalen Wettbewerbs: So zeigt „Mutluluk“ (Glück) von Abdullah Oguz die Odyssee eines jungen Vergewaltigungsopfers und seines von der Familie gesandten Mörders – er soll die Ehre der Sippe retten, weil die Frau (!) Schande über sie gebracht hat – von Anatolien nach Istanbul. Es kommt nicht zum Mord, weil der potenzielle Täter plötzlich begreift, dass anatolische Rechtsvorstellungen in der Metropole obsolet sind, und beide lernen durch die Begegnung mit einem älteren Intellektuellen, dass die Welt größer und weiter ist, als sie je glaubten.

Die Brüder Yagmur und Durul Tylan verarbeiten das Thema im subtilen Horrorfilm „Kücük Kiyamet“ (Kleine Apokalypse), in dem vor dem Hintergrund eines schweren Erdbebens die Maganda eine Mittelschichtfamilie bedrohen und deren Leben beinahe zerstören. Diese Filme spiegeln auch die Angst der Gewinner des immer noch andauernden wirtschaftlichen Aufschwungs vor der Mehrheit der Verlierer wider.

Das zweite große Thema ist der Militärputsch am 12. September 1980, der die Demokratie vorläufig außer Kraft setzte, obwohl er sie eigentlich retten wollte – gemäß dem Auftrag des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, wonach das Militär die demokratische Verfassung in der Türkei gewährleisten muss. Der Politthriller „Zincirbozan“ (Tsp. vom 14. April) von Atil Inaç versucht, Licht ins Dunkel der Verstrickungen zu bringen, die den Putsch verursachten. Die Unübersichtlichkeit der Situation visualisiert der Film durch rasche Perspektivwechsel, rasende Montagesequenzen und eine großes Figurenarsenal, das die vielen nationalen und internationalen Interessen repräsentiert, die dabei im Spiel waren. Von den individuellen Auswirkungen des Putsches erzählt Ömer Ugurs bedrückendes Drama „Eve Dönüs“ (Die Rückkehr nach Hause), in dem ein willkürlich verhafteter Familienvater wochenlang im Gefängnis gefoltert wird und schließlich traumatisiert heimkehrt. Sibel Kekilli spielt seine verängstigte und überforderte Ehefrau.

Einen eher absurden Nebenaspekt des Themas greift der Musikfilm „Beynelmilel“ (International) des Regisseursduos Sirri Süreyyah Önder/Muharrem Gülmez auf: Weil Straßenmusikanten nicht mehr auftreten dürfen, wird eine Provinzband auf allerhöchsten Erlass zur Militärkapelle umfunktoniert und muss nun zu offiziellen Anlässen Märsche spielen. Der Film beginnt in fröhlicher Urlaubsstimmung als Kleinstadtkomödie und schlägt mit seinem furiosen Finale in bitteren Ernst um. Zu Recht zeichnete die Jury „Beynelmilel“ mit einem Spezialpreis aus.

Die Hauptgewinner des Festivals sind, wenig überraschend, zwei auch bei der internationalen Kritik beliebte Repräsentanten des Autorenfilms: Nuri Bilge Ceylan wurde mit seinem bereits letztes Jahr in Cannes uraufgeführtem Ehedrama „Iklimler/Climates“ für den besten Film ausgezeichnet – und Zeki Demirkubuz wurde für „Kader“ (Schicksal), eine karg, aber zwingend inszenierte Beziehungsstudie, als bester Regisseur geehrt. Die kinematografischen Qualitäten dieser Filme stehen außer Zweifel, nicht aber die unausgesetzte egomanische Beschäftigung insbesondere des Kritikerlieblings Nuri Bilge Ceylan mit den Sorgen seinesgleichen: der intellektuellen kosmopolitischen Bewohner Beyoglus.

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