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Kultur: "Hotel Angst": Das Boot ist oll

Im späten 20. Jahrhundert wurde im Theater eine neue Spezies entdeckt: der Marthaler.

Im späten 20. Jahrhundert wurde im Theater eine neue Spezies entdeckt: der Marthaler. Zu den äußeren Kennzeichen dieses Menschenschlags gehört eine gewisse Verwahrlosung. Der Marthaler kleidet sich zwar korrekt, aber wie ein Penner. Bevorzugt hält er sich in schäbigen Wartesälen auf, wo er stundenlang tieftraurig am Tisch hockt und somnambul in die Welt hineinstarrt. Der Marthaler leidet an Fallsucht und an der Schlafkrankheit, und er liebt es, im gemischten Chor Volkslieder anzustimmen. Die Natur hat dem Marthaler eine schöne Stimme mitgegeben. Doch man soll sich nicht täuschen lassen: Die Spezies ist hinterhältig und unberechenbar aggressiv.

Alles hat vor zehn Jahren in Basel damit begonnen, dass ein Musiker namens Christoph Marthaler seinen Landsleuten den berühmten Spiegel vorhielt. "Stägeli uf, Stägeli ab" und "Prohelvetia", so nannten sich jene legendären Heimatabende, die den Marthalern sogleich zu Berühmtheit verhalfen - und ins nördliche Exil. In Hamburg, am Deutschen Schauspielhaus, und an der Berliner Volksbühne feierte man die schläfrigen Anarchisten und betulichen Barden als Heldenvolk. "Murx den Europäer ... ", das war Kult. Nun heißt es: "Murx die Schweiz!" Oder? Der Marthaler ist mit großem Pomp zurückgekehrt in seine Heimat. Nicht nur, dass die Zürcher ihrem verlorenen Sohn die Intendanz des Schauspielhauses umhängten, sie haben ihm für (geschätzte) achtzig Millionen Franken in der alten Schiffbauhalle im industriellen Westen der Stadt ein nagelneues Theater gebaut, einen variablen Raum für achthundert Zuschauer. Da steckt der Marthaler in einer luxuriösen Klemme.

Die Zürcher kennen seine Kunst ja nur vom Hörensagen und lassen sich noch überraschen. Die Erwartungen sind riesengroß. In den Schweizer Medien wurden Marthaler & Co. auf einer Woge der Sympathie zur Premiere getragen. Die ausländischen Gäste aber, die zur Eröffnung angereist sind, lernen erst einmal das Fürchten. Die marode Marthaler-Welt, so anheimelnd sie auch wirkt mit ihren eingeschlafenen Sängern, sabbernden Sitzriesen und entrückten Alleinunterhalten, ist plötzlich unverständlich geworden - und klein. Der Marthaler-Mensch spricht mit einem Mal sein radikales, unverstelltes Schweizerdeutsch, verschärft mit Dialekt-Einsprengseln aus dem Wallis und dem rhäto-romanischen Graubünden, dass es selbst in Zürcher Ohren fremdländisch knackt. Er hat also all die Jahre das deutsche Publikum gefoppt. Das Schwyzerdütsch-Light der Volksbühne war eine Mogelpackung. Endlich begreift man den wahren Kern des Marthaler-Theaters: Es gibt sich ethnografisch-universell und ist in Wahrheit egozentrisch-eng. Es feiert den Schweizer Wahn als Nabel der Welt, und es erklärt unser aller Herkommen - vom Neandertaler zum Marthaler. Grumpff!

Die Schweizer haben Fremde und Ausländer gern, wenn sie als Urlaubsgäste kommen, viel Geld dalassen und schnell wieder verschwinden. Deshalb haben die Schweizer die Hotellerie und Gastronomie vielleicht nicht erfunden, aber perfektioniert. Das ist die Geschäftsphilosophie in Marthalers "Hotel Angst" : Touristen rein, Ausländer raus! Die Schweiz geht am Sonntag zur so genannten "18-Prozent-Volksabstimmung". Begrenzung des Ausländeranteils! Christoph Marthaler hat die Uraufführung in der Schiffbauhalle, die immer noch eine Baustelle ist, durchgepeitscht. Er wollte unbedingt vor dem Wahltag das "Hotel Angst" eröffnen. Jubel, nichts als Zustimmung bei der Premiere. Vor allem Erleichterung. Sie haben es geschafft. Aber wer die Schweiz ein wenig kennt, der weiß, dass sich die Widerstände gegen das Marthaler-Theater langsam aufbauen werden.

Es ist der bekannt verhaltene, verbindliche Ton, der bei Marthaler die Musik macht. Es ist alles immer auch ein bisschen nett und süß und zunehmend nervig: die Serviermädels, die im Tiefschlaf auf einem Haufen liegen, possierliche Tierchen, fesch und adrett. Am Stammtisch dösen die debilen Gemeinderäte, eine dumpfe politische Versammlung, die sich in ihren fremdenfeindlichen Parolen (so der Gast sie versteht) dämlich verheddert. Der Schweizer Christoph Marthaler arbeitet nach dem gleichen Prinzip wie die SOZ-Art-Künstler in der Endzeit der Sowjetunion: Subversion durch Affirmation! Kampf dem Klischee durch das Klischee! Und da die Schweizer als unrettbar langsam und bedächtig gelten, gibt es Marthaler den Seinen gleichsam im Schlaf. Ob sie den Anschlag eines Tages bemerken? Oder erstickt das politische Theater der Gemütlichkeit an sich selbst?

Anna Viebrock hat das "Hotel Angst" einem Etablissement im Ferienort Adelboden nachgebaut. Altes Holz zwischen nackten Betonpfeilern, die Decke droht jeden Moment einzustürzen, die Gaststube hat bessere Tage gesehen. Die Ureinwohner nicht. Sie waren wohl immer so, suhlten sich in ihrer eingeschworenen Neutralität. Zu Zeiten Wilhelm Tells kamen die Feinde aus Österreich, heute kommt die Gefahr aus Brüssel. Bei Erwähnung der Buchstaben "EU" kriegen die Marthaler-Monstren das Kotzen. Das Boot ist voll, global ist fatal. Und die ominösen "18 Prozent" sind sowieso längst überschritten im Alpen-Albtraumland. Es ist kein Hotel, vielmehr ein Sanatorium, wenn nicht eine heruntergekommene und sehr spezielle Intensivstation, die Christoph Marthaler und sein Ensemble vorführen, müde von den Strapazen des Umziehens und Ankommens daheim.

Mit Maggi-Würzflaschen geben die Serviertöchter den senilen Gemeinderäten Injektionen in den Arm; dann beruhigen sich die cholerischen Spießer. Und dann wieder von vorn. Besuch in einer geschlossenen Anstalt, bei alten Bekannten. Die Marthaler sind wertkonservativ, sie haben seit Basel, Hamburg und Berlin nichts mehr Neues einstudiert. Christoph Homberger, der dicke Tenor, gibt den Hoteldirektor und trägt rührend idiotische Lyrik vor, wenn er nicht ein Liedlein zerschmettert. Jürg Kienberger schlurft über die Bühne und zerstört sein Klavier, und der kleine Siggi Schwientek sitzt und schweigt. Graham F. Valentine gibt mit irrem Blick einen reisenden Schotten, der einem Schweizer Madel namens Marianne nachtrauert. Olivia Grigolli wandert als "Österreicherin" mit Rucksack ein im "Hotel Angst" und wird von den finsteren Schweizern augenblicklich in die Anstaltskluft gezwängt: die Servierschürze. Die Krankenschwestern/Kellnerinnen verwickeln sich in ein folkloristisches Servierschürzen-Ballett. Die alten Herren turnen über Tisch und Stuhl, Leibesertüchtigung für melancholische Akrobaten. Ritueller Leerlauf. Und die alten Weisen erklingen zum Schwyzerörgeli herzallerliebst.

So geht es zu im Marthal, in der Schweiz. So ist er im eigenen Land angekommen, der Prophet der Schweizerischen Langsamkeit. Die Schweizermacher produzieren ihre Schweizer Lacher ab sofort im Inland. Der Gast im "Hotel Angst" checkt nach drei Stunden aus, ärgert sich über die Rechnung und erinnert sich an Gottfried Benns Gedicht "Reisen": "Meinen Sie, Zürich zum Beispiel / sei eine tiefere Stadt, / wo man Wunder und Weihen immer als Inhalt hat?"

Rüdiger Schaper

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