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Kultur: Hundert Leben

Sie ist die Entdeckung des Festivals: ein Porträt der „Sehnsucht“-Regisseurin Valeska Grisebach

Nun hat sie doch keinen Bären gewonnen, auch wenn ihr Film bis zuletzt zu den Gold-Favoriten zählte. Aber allein, dass Valeska Grisebach mit „Sehnsucht“ in den Wettbewerb eingeladen war, ist eine kleine Sensation. Bisher lief auf der Berlinale so etwas im Forum: all die auf den ersten Blick unscheinbaren Filme einer jungen deutschen Regiegeneration, die stille Bilder bevorzugt und sich auf Wirklichkeit konzentriert, bis diese ihre spröde Schönheit preisgibt.

Valeska Grisebach, Jahrgang 1968, geboren in Bremen, aufgewachsen in Berlin, nennt diesen Stil gern „umgangssprachlich“. Wie realistisch ist denn nun ihr zärtlich-nüchternes Dorfmelodram vom Schlosser, der eine liebe Ehefrau hat, sich in eine Kellnerin verliebt und sich mit der Schrotflinte ins Herz schießt? „Realismus“, sagt Grisebach, als wir am Samstag kurz vor der Preisverleihung telefonieren, „ist für mich nichts Pures, nichts Absolutes. Es ist etwas Persönliches, ein eigener Blick, der eine Form findet. Es bedeutet: in Kontakt treten.“ Mit der Welt, den Menschen, den eigenen Träumen.

Valeska Grisebach lacht, verlegen. Wegen der großen Worte. Sie mag das nicht, diese sprachliche Festlegung. Deshalb redet sie schnell, und ihre Bilder sind langsam: eine Suchbewegung, die sich dem nähert, was man Sehnsucht nennt. Sehnsucht ist für sie „eine große schöpferische Kraft. Man möchte in der Welt versinken wie in einer weiten Landschaft, aber das geht nicht. Leben ist Verzicht.“ Ein gelebtes Leben, das sind hundert ungelebte. „Ich gehe gerade diese Berliner Straße entlang, deshalb kann ich an keinem anderen Ort sein“, sagt sie am Telefon. Filmemachen ist der Aufbruch an diese Orte.

Studiert hat Grisebach, nach dem Abitur am Steglitzer Heese-Gymnasium und ein paar Semestern Philosophie und Germanistik, an der Wiener Filmschule, unter anderem bei Michael Haneke. Sie brauchte Zeit, um herauszufinden, was sie will mit den Bildern. In den späten Neunzigern entstanden in Österreich viele kompromisslose Filme, wie etwa Barbara Alberts Sozialtragödie „Nordrand“. Noch eine Wirklichkeitsschule.

Für ihren Abschlussfilm „Mein Stern“ (2001) wollte sie wissen, wie das ist: Teenie sein, erste Liebe, erster Sex. Nicole und Christopher gehen miteinander, sie ist 15, er 16. Sie erkunden ihre Körper, probieren große Sätze aus, wenn Schöps bei Nicole klingelt und sagt, dass er ohne sie nicht leben kann, während die Sprechanlage fiepst. Valeska Grisebach hat dafür 250 Berliner Jugendliche nach der Liebe und ihren Zukunftsplänen befragt und zwei davon für die Hauptrollen gewonnen. Dem Produzenten Peter Rommel („Sommer vorm Balkon“) gefiel das so sehr, dass er Grisebach ansprach: Er wollte unbedingt einen Film mit ihr machen. „Wegen ihres Arbeitsstils, ihrer eigensinnigen Handschrift“, sagt er heute.

Auch für das Casting der Laiendarsteller von „Sehnsucht“ hat sie mit Männern und Frauen aus der Region um Neuruppin gesprochen: darüber, was mit 30 von den Lebensträumen bleibt. Wieder fand sie so ihre Hauptdarsteller und probte mit ihnen, vor dem Dreh im brandenburgischen Zühlen, mit etlichen Dorfbewohnern in den Nebenrollen. Sie legt Wert darauf, dass niemand sich selbst spielt. Und sie verrät, dass die Vorbereitung, das Casting und die Recherche, ihr lustvollster Moment beim Filmemachen sei. „Man hat einen Gedanken und schließt ihn in ein Kollektiv ein.“ Bei der Kollision der Fiktion mit der Wirklichkeit stößt sie oft auf kostbare Dinge, die sie sich nie ausdenken könnte. Zum Beispiel auf die Geschichte vom verheirateten Maurer im südfranzösischen Dorf, der sich verliebte, sich ins Herz schoss – und überlebte.

Im Film ist unmittelbar vor der Szene mit der Schrotflinte ein fressender Hase zu sehen. Das stand schon im Drehbuch. Der Schlosser legt die Flinte beiseite, streichelt den Hasen, erst danach folgt der tragische Augenblick. Die Regisseurin kennt das von sich: „Man leidet wie ein Hund, aber neben mir steht ein schöner Baum, oder ein Tier futtert ungerührt sein Salatblatt. Dem ist mein Leid egal. Der Hase ist einfach da, warm und lebendig.“

Warum ist sie Filmemacherin geworden und nicht etwa Schriftstellerin? Die 38-Jährige zögert. „Das Kino verlangt die Handlung, aber mich interessiert das Ungeordnete, der freie, assoziative Moment, in dem auf den ersten Blick nichts geschieht.“ Deshalb bewundert sie kontemplative Filme wie die von Maurice Pialat. Der Zauber des Kinos: „Ein Fenster geht auf, man guckt in die Welt.“

Filmemachen wollte sie seit ihrer Schulzeit. Nur eben nicht sofort. Erst mal treiben lassen, bisschen studieren, in München und Wien, Jobs bei Filmproduktionen, sogar Werbespots hat sie gedreht. Während des Filmstudiums dann kurze Dokumentarfilme, „Berlino“ (1999) zum Beispiel, das Alltagsporträt italienischer Bauarbeiter auf dem Potsdamer Platz.

„Im Geschichtenerzählen steckt eine große Kraft, die dich aufwühlen und trösten kann. Man wächst mit Geschichten auf, ich wollte schon immer Teil dieser Geschichtenwelt sein“, erinnert sich Valeska Grisebach. Als kleines Mädchen saß sie oft im Fernsehzimmer der Großeltern. „Alle Shirley-Temple-Filme habe ich dort gesehen, Cary Grant küsst Ingrid Bergman, die volle Dröhnung.“ Daran hat sie lange nicht gedacht. Aber jetzt, wo sie für ihren zweiten Spielfilm auf der Berlinale Lorbeeren erntet und alle Welt sie nach ihrer Bildersehnsucht fragt, fällt ihr das Zimmer wieder ein. Jener besondere Ort, damals, als sie ein Kind war.

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