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Kultur: Ich bin ein Paria

Johan Simons, Regisseur des Jahres, inszeniert an der Berliner Volksbühne Dostojewski

Wenn sie an der Volksbühne abends nicht spielen, hängt am Theater ein Transparent, das das Gegenteil behauptet: „Wir spielen immer.“ Was natürlich eine Lüge und wahrscheinlich eine Art philosophisches Statement ist. Jenseits von charmanter Lüge und hochgestapelter Wahrheit aber ist die Parole vor allem das, was Großbuchstaben im Stadtbild meistens sind: Werbung. In diesem Fall Werbung für eine Inszenierung von Johan Simons. Der 58-jährige Holländer, vor kurzem in der Kritiker-Umfrage der Zeitschrift „Theater heute“ zum Regisseur des Jahres gewählt, inszeniert die erste Premiere der Saison, „Der Zocker“, frei nach Dostojewskis „Spieler“.

Wenn sich der bekennende Groß-Zyniker Castorf an der Volksbühne in seine Dostojewski-Delirien stürzt, geht es um Gottsuche, Selbst-Ekel und Nihilismus. Vielleicht liegt es daran, dass Simons aus einem calvinistischen Land kommt, dass ihn bei Dostojewski andere Themen interessieren. „Verschwendung ist antikapitalistisch“, sagt der Regisseur. „Ich weiß, wovon ich rede. Mein Vater und mein Bruder waren harte Zocker, die große Summen verspielt haben. Ich bin im Stande, nach Paris zu gehen und an einem Wochenende 10000 oder 20000 Euro auszugeben.“ Kein Wunder, dass ihm Dostojewskis vergammelte Aristokraten sympathisch sind. „Diese Leute wollen ein intensives Leben im großen Stil. Menschenwürde und Selbstachtung kann man nicht kaufen. Wer beim Spielen große Summen setzt und verliert, geht damit die Wette ein, dass ihn diese Vernichtung von Geld nicht wirklich trifft.“

Auch wenn das klingt, als würde ein Snob Geld- und Existenzvernichtung am Roulette-Tisch romantisieren, ist Simons alles andere als ein verplauderter Romantiker. Im Gegenteil: Seine Inszenierungen sind von einer Härte, psychologischen Eindringlichkeit und Klarheit der Erzählung, wie man sie im gegenwärtigen Theater selten findet. Dass er jetzt an der Volksbühne arbeitet, kann beiden nur gut tun. Castorf hat endlich wieder einen ebenbürtigen Regisseur am Haus und muss sein Theater nicht mehr einsam als Castorf-Themenpark betreiben.

Die konstruktivistischen Splatter-Collagen des Hausherrn bekommen mit Simons hartem Realismus einen spannenden Kontrapunkt. Und das alles auf Kumpelbasis. Simons: „Ich brauche, dass das Theater, an dem ich arbeite, ein bisschen wie eine Familie funktioniert. An der Volksbühne ist das absolut der Fall.“ Castorf über die Vertragsverhandlungen: „Wir haben sehr gut miteinander getrunken.“ Pech für die Schaubühne, die sich seit Jahren um den Regisseur bemüht hat. Jetzt sitzt Simons beim Interview bestens gelaunt in Castorfs Intendantenbüro, schaut auf das Stalin-Plakat an der Wand und grinst: „Ich fühle mich sehr wohl hier. Schließlich war ich einige Jahre Mitglied in der kommunistischen Partei Hollands.“

Entwickelt hat Simons seine kraftvolle Theatersprache mit seiner Compagnie „ZT Hollandia“. Seit 1985 zeigten sie ihre Aufführungen am liebsten außerhalb von Theatergebäuden – in Fabriken, Kirchen, Fußballstadien oder auf einem Autofriedhof. „Die Idee bei der Gründung von Hollandia war es, Theater für Leute zu machen, die normalerweise nicht ins Theater gehen – aber das ist nicht gelungen“. Stattdessen wurde ZT Hollandia zu einer der wichtigsten Gruppen des europäischen Theaters.

Die berühmteste Hollandia-Aufführung, „Der Fall der Götter“, nach dem Visconti-Film, erzählt die Geschichte der Industriellen-Dynastie Krupp als bürgerliches Königsdrama – vor kurzem war die Inszenierung im Hebbel Theater zu sehen. Entdeckt Simons in der Unternehmer-Familie brutale Machtkämpfe wie bei Shakespeare, ein Ineinander von Privatem, Sexuellem und den Spielen der Herrschaftsauseinandersetzung, rückt er umgekehrt in seiner „Richard III.“-Inszenierung Shakespeares Könige und Killer in ein bürgerliches Ambiente. Simons erste große Inszenierung in Deutschland arbeitet mit ähnlichen Doppelbelichtungen der Geschichte.

Aus Heiner Müllers Shakespeare-Schlachtplatte „Anatomie Titus“ machte Simons an den Münchner Kammerspielen eine Reflektion des islamistischen Terrorismus und seiner Ursachen. Das Konzept für die Inszenierung lieferte Bert Neumanns Bühne: Die Bühne verdoppelt das Parkett, in den grausam-dekadenten Römern auf der Bühne konnte sich das Publikum selbst besichtigen.

Das Thema, an dem sich Johan Simons immer wieder abarbeitet, könnte man als den Sado-Masochismus der Macht beschreiben: Herrschaftsverhältnisse, die durch genussvoll ausgekostete Erniedrigung des Schwächeren immer wieder reproduziert werden. Simons koppelt die scheinrationalen Mechanismen gesellschaftlicher Hierarchien mit der Wucht archaischer Triebkräfte. „Kultur, Zivilisation bedeutet die Domestizierung von Gewalt“, sagt Simons. „Im Theater, wenn es gut ist, wird diese Kulturleistung aufgebrochen.“ Dass Simons von den durch soziale Hierarchien produzierten Verletzungen fasziniert ist, hat autobiografische Gründe. „Ich komme vom Dorf, meine Eltern sind Bauern, einfache Leute. Obwohl ich ein guter Schüler war, hatte ich keine Chance, auf eine höhere Schule zu kommen, einfach weil ich nicht aus besseren Verhältnissen komme. Diese Verletzungen haben mir viel Kraft gegeben.“

Der Weg aus der Enge kommt durch die Kunst. Als Kind sieht Simons im Fernsehen eine „Peter Pan“-Verfilmung – und fängt im Wohnzimmer an, die Tanzbewegungen zu imitieren. Ein Bekannter der Eltern überredet sie, das begabte Kind auf eine Schule für Tänzer zu schicken. „Die Tanz-Ausbildung in Rotterdam habe ich mit 14 Jahren begonnen – das war die Befreiung vom Dorf. Ich war noch viele Jahre später ein Bauernjunge. Ich habe lange gebraucht, um mich davon zu befreien. Was ich mit dem ,Zocker’ mache, ist ein Theater der Parias.“

Wenn Johan Simons über Schönheit spricht, klingt das nicht nach dem Genuss gefälliger Reize. „Mich interessiert die Schönheit der Verletzung“, sagt er. Nächstes Jahr wird Simons ZT Hollandia verlassen und in Gent das Publiekstheater NT übernehmen. Dann muss er wieder mit Politikern verhandeln. Für solche Verhandlungen hat er einen Trick: Er legt seinen Kopf in die rechte Hand. Weil nach einem Unfall von seinem Ringfinger nur noch ein Stummel übrig ist, schauen die Politiker immer auf den kaputten Finger. „Dann geben sie mir lieber mehr Geld für mein Theater, weil sie denken, mein Gott, was muss der Mann für eine Biografie haben – und was wird er Schlimmes tun, wenn er nicht genug Geld für sein Theater hat.“

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