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Kultur: Ich bin zwei Berliner

Er war sichtlich nervös, als er mit einem Bündel ineinander geschobener Papiere ans Pult trat. Sowas hatte der Sänger auch noch nicht gemacht: eine Rede von 50 Minuten Länge zu halten, die sich überdies einem so heiklen und komplexen Thema wie dem Heimatbegriff widmen wollte.

Er war sichtlich nervös, als er mit einem Bündel ineinander geschobener Papiere ans Pult trat. Sowas hatte der Sänger auch noch nicht gemacht: eine Rede von 50 Minuten Länge zu halten, die sich überdies einem so heiklen und komplexen Thema wie dem Heimatbegriff widmen wollte. Und so holte der gefeierte Popstar und Schauspieler Herbert Grönemeyer tief Luft, bevor er zögernd begann. Mit einer Anekdote: Als der in London lebende Musiker kürzlich von seinen Nachbarn zu einem Essen eingeladen war, wurde er einem jüdischen Georgier vorgestellt, der aus seinem Hass auf "all Germans" keinen Hehl machte. Der Mann war als Kind mit seinen Eltern aus Nazi-Deutschland emigriert. Doch die blieben ihrer Heimat zeitlebens eng und unglücklich verbunden, so dass auch er noch Soldaten- und Volkslieder zu singen wusste, die nicht einmal Grönemeyer kannte.

Fluchtreflex und Heimatliebe. Wie über Deutschland nachdenken, ohne nationale Bedürfnisse zu bedienen? Wie ein Gefühl für das Deutsche entwickeln, das als Tugend so abstoßend wie begehrt ist? Nicht umsonst hat der bekannteste deutsche Popmusiker seine Heimat verlassen. Von London aus, der mondänen Metropole, lässt sich das deutsche Dilemma besser erkennen, räumt Grönemeyer ein, der sein Zehlendorfer Haus behalten hat. Seine "Lektion" ähnelt denn auch über weite Strecken einer Sammlung von Beobachtungen, die erst allmählich ihren Kerngedanken freigibt. "Deutschland hat es nie gegeben", sagt er, "allenfalls in Etappen" - und wiederholt, was er jüngst in Interviews (siehe Tagesspiegel vom 21. 10.) erklärte: Deutschland durchlebt als elfjähriges Gebilde gerade seine Pubertätsphase. Ob es an eine demokratische Kultur anknüpfen und intellektuell in der Lage sein werde, seine 80 Millionen Einwohner zu organisieren, müsse sich erst noch herausstellen. So sieht der streitbare "Kampfsänger", wie er sich nennt, in der Wiedervereinigung auch eine verpasste Chance der inneren Einheit. Die Verletzungen und Demütigungen im Osten und das Unverständnis im Westen, der die neuen Bundesländer allenfalls als Annex begreift, ließen ein "psychologisches Bruderkriegspotenzial" entstehen, meint Grönemeyer.

Seine Rede vibriert von einer unterschwelligen Empörung, die der impulsive Mann nur mühsam zu zügeln vermag. Wie viel Exzentrik, Glamour und "radikale Verirrung" könne Deutschland aushalten, fragt er und verweist auf die Uniformierung des öffentlichen Bewusstseins, das geistige Außenseiter wie Rio Reiser unter Kuratel stelle. Mit Blick auf die kurze Berliner Blüte der 20er Jahre meint er, dass der wissenschaftliche und künstlerische Aufbruch, der Deutschland in den Rang einer einflussreichen Kulturnation hätte erheben können, "an der Kooperation der geistigen Eliten mit der Macht" gescheitert sei.

Es mag für einen Popmusiker, der sich in die kollektiven Fantasien der Masse einschreibt, verwegen klingen, wenn er schmunzelnd die "Diktatur der Quote" beklagt. Doch als Rheinländer und Kind einer familiären Ost-West-Verschmelzung liebt er eine andere, die "radikale Mitte". Sie ist nicht Mittelmaß und Durchschnitt, sondern eine Trennscheibe, ein Sichtglas, das die eigene Zerrissenheit spiegelt: "Ich bin zwei Berliner."

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